17 Mai Verstehen statt Urteilen
Weltanschauungsfragen aus einer neutralen Perspektive
Autor: Isabella Dichtel, Dr. Sarah Pohl
Kategorie: Psychologie
Ausgabe Nr: 86
Im boomenden spirituellen Markt kann schnell der Überblick verloren gehen und so können Schwierigkeiten auftreten, zwischen seriösen und unseriösen Angeboten zu unterscheiden. Unter anderem aus diesem Grund wurde die Zentrale Beratungsstelle für Weltanschauungsfragen Baden-Württemberg (kurz ZEBRA BW) gegründet. Im Gespräch stellte sich jedoch heraus, dass derzeit ein anderes Thema ihren Beratungsalltag bestimmt: Verschwörungstheorien rund um Corona und die Frage nach einem konstruktiven Umgang mit verschiedenen Weltanschauungen.
Tattva Viveka: Wir begrüßen heute Dr. Sarah Pohl und ihre Kollegin Isabella Dichtel von der Zentralen Beratungsstelle für Weltanschauungsfragen Baden-Württemberg, die ihren Sitz in Freiburg hat. Möchten Sie sich unseren Leserinnen und Lesern vorstellen?
Sarah Pohl: Die Beratungsstelle ZEBRA BW gibt es noch nicht lange, erst seit dem 15. Februar 2020. Wir sind eine vom Kultusministerium geförderte Beratungsstelle und decken ein sehr weites Themenfeld ab. Beispielsweise beraten wir Menschen, die in spirituelle Krisen geraten sind oder die auf dem Esoterikmarkt Angebote konsumieren – in dieser Hinsicht bieten wir eine Art neutrale Verbraucherberatung –, aber auch Sektenaussteiger und in letzter Zeit verstärkt Angehörige, die jemanden im Umfeld haben, der an Verschwörungstheorien glaubt. Einer unserer wichtigsten Grundsätze ist, dass wir neutral beraten, weil wir vom Land gefördert werden. Wir folgen keiner weltanschaulichen Festlegung und sagen den Menschen nicht, was richtig und falsch oder was guter und schlechter Glaube ist.
Zu meiner Person: Ich bin Systemische Paar- und Familienberaterin, Heilpraktikerin für Psychotherapie und Diplom-Pädagogin. Vor 15 Jahren habe ich im Bereich Kindererziehung in religiösen Gruppierungen promoviert und lange Jahre in der Parapsychologischen Beratungsstelle gearbeitet. Dort kam ich mit vielen außergewöhnlichen Erfahrungen in Berührung, beispielsweise mit Menschen, die Spuk, Verhexungen oder Telepathie erfahren haben, aber auch mit Menschen, die auf dem Esoterikmarkt mit Heilern und ähnlichen Angeboten Erfahrungen gesammelt haben.
Isabella Dichtel: Mein Name ist Isabella Dichtel. Ich bin von Haus aus Sozialpädagogin und auch Systemische Paar- und Familientherapeutin. In den letzten Jahren war ich in der Beratung von Menschen mit Suizidalität, Arbeitsplatzkonflikten und psychischen Erkrankungen tätig. Seit Mitte letzten Jahres arbeite ich bei der ZEBRA BW.
Welches Selbstverständnis ZEBRA BW von sich hat, lesen Sie im vollständigen Artikel. ? Unten können Sie bestellen!
Orientierung auf dem spirituellen Markt
Pohl: Die Motivation des Landes Baden-Württemberg, eine derartige Beratungsstelle auszuschreiben, fußte auf der Beobachtung, dass verstärkt Anfragen zu all diesen – ich nenne es fluiden – Phänomenen auf dem religiösen Markt gestellt wurden.
Früher handelte es sich vornehmlich um sogenannte Sekten, aber dies trifft auf die heutige Situation nicht mehr zu. Denn wir begegnen heute unterschiedlichen Erscheinungsformen, zum Beispiel Jugendlichen oder jungen Menschen, die eher Religions-Hopping betreiben. Wir befassen uns weniger mit institutionalisierter Religion als vielmehr mit individueller Spiritualität. Das wirft für manche Fragen auf, die in schwierige Situationen führen können. Deshalb kam der Wunsch auf, eine neutrale Anlaufstelle für Menschen anzubieten, die in irgendeiner Weise eine Verbraucherberatung benötigen oder über bestimmte Erfahrungen sprechen möchten, die sie auf dem Esoterikmarkt machten. Vor diesem Hintergrund erfolgte die Gründung. Aber:
Als wir gegründet haben, wussten wir noch nicht, dass die Verschwörungsmythen rund um Corona unseren Beratungsalltag so sehr bestimmen würden,
wie es derzeit der Fall ist.
TV: Ist das Bedürfnis nach einer Beratung stärker geworden? Sie waren vorher bereits im Bereich der parapsychologischen Forschung und Beratung tätig. Würden Sie sagen, dass die spirituelle Szene am Wachsen ist?
Pohl: Mein Eindruck ist, dass dieser Markt am Boomen ist. Menschen suchen und leben verstärkt individuelle Formen von Spiritualität. Dementsprechend schießen Anbieter wie Pilze aus dem Boden, die dieses Angebot beziehungsweise die Nachfrage regeln. Unter diesen Anbietern sind nicht alle unbedingt seriös. Ich habe in den letzten Jahren Menschen beobachtet, die dieses Bedürfnis nach Sinnsuche ein Stück weit ausnutzen und finanzielle Interessen verfolgen, die also diese an sich sehr positive Bewegung von der Suche nach individuellem Glauben für sich instrumentalisieren. In Hinblick darauf denke ich, dass es gut ist, wenn es neutrale Anlaufstellen gibt.
Zudem vermute ich, dass sich diese Tendenz hin zu einer stärkeren Individualisierung auf dem religiösen Markt weiterentwickeln wird, teils auf Kosten der Institutionalisierung.
Möchten Sie wissen, inwiefern die Diskussionen rund um Corona den Beratungsalltag der ZEBRA BW verändern haben? Das können Sie im vollständigen Artikel lesen. (Bestellmöglichkeit am Ende des Beitrags!)
Wie lerne ich, mit verschiedenen Meinungen umzugehen?
Ein weiterer Teil deckt fachliches Wissen über Verschwörungstheorien ab: Wie grenze ich überhaupt solche Theorien ab? Ist jemand nur Kritiker, und ich werfe ihn aus Versehen in diesen Topf? Denn in letzter Zeit werden gehäuft Menschen als Verschwörungstheoretiker gelabelt, die von sich sagen: »Ich bin einfach kritisch gegenüber den Maßnahmen, und wir brauchen einen Diskurs.« Bereits Willy Brandt sagte: »Kritik ist das Salz der Demokratie.« Es ist sehr wichtig, dass wir von Pauschalisierungen ablassen und Kritik an den richtigen Stellen zulassen. Deswegen klären wir zunächst über Hintergründe auf. Womöglich ist derjenige, mit dem ich streite, gar kein Verschwörungstheoretiker und wird zu Unrecht so benannt.
Wir versuchen auch, stark zu differenzieren, weil es »den Verschwörungstheoretiker« nicht gibt.
Jeder geht einen anderen Weg in diesem Bereich und kommt aus einer anderen Richtung.
Zudem war es uns ein Anliegen, differenzierte Hilfestrategien anzubieten. Ein Teil, den Frau Dichtel in dem Buch übernommen hat, umfasst Strategien aus der gewaltfreien Kommunikation. Ein weiterer Teil listet Kommunikationsstrategien zu faktengeleiteten Diskussionen auf: Wie kann ich meine Argumentationsstruktur so aufbauen, dass ich eventuell doch durchdringen kann? Was muss ich zum Entstehen von Überzeugungen wissen – denn diese sind oft affektbasiert und nicht rational – und wie baue ich dementsprechend meine Argumentation auf? Wir bieten einen bunten Strauß an Möglichkeiten, miteinander anders in Kontakt zu treten.
Dichtel: Es geht bei uns nicht darum, sich auf eine Seite zu schlagen und zu sagen, dass man jemanden von einer Meinung überzeugen muss.
Vielmehr steht im Fokus, zu lernen, wie man verschiedene Meinungen zulassen kann.
In dieser Fassung sind Auszüge aus dem Artikel wiedergegeben. Den vollständigen Artikel gibt es im Pdf, das unten bestellt werden kann.
Pohl: Verschwörungstheorien können für manche hilfreich sein, um besser Krisen zu meistern, weil sie einen Sinn in der Krise entdecken. Deswegen sagen wir nicht per se, dass alle Verschwörungstheorien Unsinn seien, sondern Verschwörungstheorien können, wenn man diese im individuellen Kontext betrachtet, bei manchen vielleicht einen wichtigen Beitrag zur Angstbewältigung und zu einer Verstehbarkeit liefern. In diesem Zusammenhang zitiere ich gern Nietzsche: »Wer ein Warum hat, erträgt fast jedes Wie.« Verschwörungstheorien können helfen, ein Kohärenzgefühl herzustellen. Von daher wäre ich vorsichtig mit einer pauschalen Zuweisung im Sinne von »das ist eine gute Verschwörungstheorie und das eine schlechte«, sondern man sollte auf die individuelle Passung achten.
Dichtel: Obwohl manche Leute mit dem Verständnis an uns herantreten, dass wir Urteile fällen und bewerten, was richtig ist und was nicht, ist das weder unsere Aufgabe noch unser Selbstverständnis. Wir sind eine Beratungsstelle, in der Menschen Unterstützung bei offenen Fragen, Unsicherheiten und Krisen finden. Menschen, die sich mit dem wohlfühlen, was sie glauben, wenden sich in der Regel nicht an uns, weil sie eben keinen Bedarf haben. Bedarf entsteht aber da, wo Konflikte vorliegen, im Äußeren oder im Inneren. Dann bemühen wir uns gemeinsam mit diesen Menschen darum, zu sortieren, damit sie für sich selbst eine stimmige Lösung und einen angemessenen Umgang mit diesen Situationen finden. Wir helfen niemandem damit, dass wir sagen: »Das finde ich gut, das finde ich schlecht.« Stattdessen versuchen wir, die richtigen Fragen zu stellen, damit der Mensch selbst einen Kompass findet und erkennt, was ihm guttut, was hilfreich ist und wo es ihm nicht guttut. Und: Was wem guttut, ist sehr individuell.
Dies sind Ausschnitte aus dem Artikel.
Erfahren Sie mehr über den (konstruktiven) Umgang mit verschiedenen Meinungen und Weltanschauungen.
Lesen Sie die vollständige Fassung in Tattva Viveka 86 oder downloaden Sie diesen Artikel einzeln als ePaper für 2,00 € als ePaper erhältlich (Pdf, 8 Seiten).
Zu den Autor*innen
Dr. Sarah Pohl, Diplom-Pädagogin, Systemische Paar- und Familienberaterin und Heilpraktikerin für Psychotherapie, leitet die Zentrale Beratungsstelle für Weltanschauungsfragen des Landes Baden-Württemberg. Sie arbeitete acht Jahre in der Parapsychologischen Beratungsstelle in Freiburg und ist seit Langem als Referentin und Autorin in diesem Themenfeld tätig.
Isabella Dichtel ist Mitarbeiterin der Zentralen Beratungsstelle für Weltanschauungsfragen des Landes Baden-Württemberg (ZEBRA BW). Als Sozialpädagogin und Systemische Paar- und Familienberaterin berät sie Menschen in Lebenskrisen. Sie ist Expertin für Arbeitsplatzkonfliktberatung und Kommunikation und leitet Seminare zu Stärkung der Resilienz und Konstruktiver Kommunikation.
Verstehen statt Urteilen (PDF)
€ 2,00
Dr. Sarah Pohl und Isabella Dichtel
Verstehen statt Urteilen
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