29 Sep Außergewöhnliche Erfahrungen
Spiritualität in der psychologischen Forschung
Autor: Prof. Dr. Niko Kohls
Kategorie: Psychologie
Ausgabe Nr: 76
Spirituelle Erfahrungen werden im wissenschaftlichen Kontext häufig nicht ernst genommen. Spirituelle Krisensituationen werden deswegen häufig als psychopathologische Symptome eingeordnet. Die Möglichkeiten und Grenzen der Integration spiritueller Erfahrungen in die aktuellen Forschungen und die psychologisch-psychotherapeutische Ausbildung zeigt der Medizinpsychologe und Professor für Gesundheitswissenschaften im Interview auf.
Frage: Herr Professor Kohls, Sie sind Professor für Gesundheitswissenschaften in Coburg und als Privatdozent für Medizinische Psychologie an der LMU in München tätig. Von 2008 bis 2014 waren Sie Forschungsgruppenleiter des »Generation Research Program« (GRP) an der LMU in Bad Tölz. Seit 2011 sind Sie im wissenschaftlichen Beirat der Zeitschrift »Spiritual Care«. Sie haben im Fachgebiet Medizinpsychologie 2012 habilitiert. Ihre Promotion zum Thema »Außergewöhnliche Erfahrungen – Blinder Fleck der Psychologie« aus dem Jahr 2004 umfasst ca. 500 Seiten. Was hat Sie persönlich an diesem Themenbereich interessiert?
Prof. Kohls: In meinem Leben gab es bestimmte außergewöhnliche Erfahrungen, die nicht einfach zu verarbeiten waren, aber mein großes Interesse geweckt haben. Eine aus diesen Erfahrungen resultierende Beschäftigung mit Spiritualität und gewissen Bereichen der Parapsychologie führte zu Fragen wie:
Gibt es in der Welt im Sinne einer Hintergrunddimension eine Art schicksalhafte Koinzidenz, um nicht zu sagen teleologische Fügung oder sogar eine Form von All-Verbundenheit?
Während meines Psychologiestudiums in den 1990er Jahren ging es im Wesentlichen um Wirksamkeitsforschung und Coping-Strategien, die vor allem mit manifestierten Handlungen zu tun haben.
Phänomenologischen Dimensionen menschlichen Erlebens wurde hingegen kaum Raum geschenkt.
Diese einseitige Betrachtungsweise stand in starkem Kontrast zu den Erfahrungen, die ich als junger Mensch gemacht hatte, sei es im Rahmen des Kampfsports oder im Rahmen der Meditation. Ich wollte einfach wissen, was geschieht, wenn ein Mensch eine Stunde unbeweglich im Raum sitzt, augenscheinlich nichts macht, und ob dies eine gesundheitsförderliche oder zumindest psychohygienische Wirkung nach sich zieht. So war ich motiviert, mich in der Psychologie diesen Themen zu widmen.
Spiritualität in der Psychotherapie
Frage: Die erste Auflage ihrer Promotion stammt von 2004. Sie formulieren auf Seite 386 die Hypothese, dass in der herkömmlichen Ausbildung der Psychotherapeuten eine Vorgehensweise fehlt, die psychopathologische Zustände von spirituellen Krisen unterscheidet.
Hat sich Ihrer Beobachtung und Ihrer Kenntnis nach in den vergangenen zehn Jahren in der Ausbildung zum Psychotherapeuten etwas verändert?
Werden spirituelle Themen inzwischen in den Ausbildungsinhalten berücksichtigt?
Prof. Kohls: Das ist eine interessante und gute Frage. Da muss man zwei Ebenen unterscheiden:
Da ist zum einen die Ebene der professionellen und gesetzlich verankerten psychotherapeutischen Verfahren, die man im Rahmen des gesetzlichen Versorgungssystems abrechnen kann. Dann gibt es den – ich möchte es so bezeichnen – grauen Markt der Psychotherapie durch semi-professionalisierte psychologische Berater oder Coaches. Wenn man sich mit diesem Markt befasst, so ist festzustellen, dass spirituelle Dimensionen im Rahmen einer neu entstandenen Form der Bewusstseinskultivierung in den letzten Jahren extrem an Bedeutsamkeit gewonnen haben. Ein guter Gradmesser dafür ist beispielsweise die eindrucksvolle Größe der »Heiligenfeld-Kongresse« der letzten Jahre, die mit Besucherzahlen von weit über 1000 interessierten Personen genau das abbildet. Als wir vor ca. 20 Jahren begonnen haben, uns mit Achtsamkeit zu beschäftigen, war es hingegen extrem schwierig, auch Institutionen für Achtsamkeit zu interessieren.
Inzwischen haben Achtsamkeitsverfahren einen ähnlichen Professionalisierungsgrad wie die Yogabewegung in den 1960er und 1970er Jahren, als sich Yogazentren etablierten.
Auch im betrieblichen Gesundheitsmanagement ist Achtsamkeit mittlerweile eine feste Größe geworden und wir sind gerade dabei, die große Studie zu Achtsamkeit am Arbeitsplatz auszuwerten. Ich bekomme jeden Monat ein bis zwei Kooperationsanfragen von Unternehmensberatern, die dann auch mal den Jon Kabat-Zinn gelesen haben und das, was er sagt, gut und richtig finden. Das ist in meinen Augen ein guter Indikator dafür, dass sich dieses Anwendungsfeld sehr verändert hat und nunmehr auch eine gewisse arbeitsweltnahe »Marktgängigkeit« besitzt.
Auf der anderen Seite tut sich die Wissenschaft gerade in Deutschland oder in Kontinentaleuropa mit dem tiefer liegenden Thema Spiritualität und zum Teil auch mit dem Bereich der erfahrungsbasierten Dimensionen von Religion und Religiosität nach wie vor schwer.
Da sind Diskursstränge nach dem Zweiten Weltkrieg abgebrochen, die nicht oder nur sehr zögerlich wieder aufgenommen wurden. In den etablierten tiefenpsychologisch ausgerichteten Verfahren gibt es eine Tendenz, sich den spirituellen Dimensionen zu öffnen und diese auch in der Therapie zuzulassen, in einem gewissen Ausmaß kommen diese auch in der Verhaltenstherapie zum Tragen. Darüber hinausgehende Fragen, beispielsweise nach existenziellen Grenzerfahrungen von Menschen, die z. B. bei Nahtoderfahrungen auftreten, werden üblicherweise eher nicht zugelassen oder berücksichtigt. Dadurch findet zumindest implizit eine starke Abgrenzung von professionalisierter Psychotherapie in Richtung Esoterik statt. In meinem persönlichen Freundeskreis gibt es Therapeuten, die spirituelle Themen im Rahmen ihrer psychotherapeutischen Tätigkeit angesprochen haben und deswegen von qualitätssichernden Institutionen wegen mangelnder Wissenschaftlichkeit und weltanschaulicher Neutralität gerügt wurden.
In dieser Fassung sind Auszüge aus dem Artikel wiedergegeben. Den vollständigen Artikel gibt es im Pdf ( 8 Seiten), das unten bestellt werden kann.
Die Spannung zwischen Spiritualität und Psychotherapie
Frage: Psychotherapeutische Vereinigungen stehen spirituellen Inhalten im Rahmen von psychotherapeutischen Fortbildungen eher kritisch gegenüber. Was sind Ihrer Meinung nach mögliche Ursachen für diese Widerstände?
Prof. Kohls: Ich glaube, dass die wissenschaftliche Sozialisation oftmals dazu führt, sich nicht für diese eher subjektiven Themen zu öffnen, da diese als unwissenschaftlich gelten. Außerdem gibt es fachspezifisch große Unterschiede im Hinblick auf spirituelle Perspektiven.
1998 wurden Wissenschaftler von der National Academy of Sciences in Amerika gefragt, ob sie an Gott glauben. Die Ergebnisse zeigten, dass 92 % aller befragten Forscher nicht an Gott glauben und von den verbleibenden Gläubigen waren tendenziell die Physiker und Mathematiker am gläubigsten, die Psychologen und Biologen waren am wenigsten gläubig.
Daher können wir vermuten, dass die Psychologie, die Lehre vom Erleben und Verhalten des Menschen, in dem Versuch, sich evidenzbasiert im Sinne der Physik aufzustellen, mit den Seelenlehren früherer Zeiten konkurrieren muss, ob sie es nun will oder nicht. Dies mag dazu geführt haben, dass die klandestinen Bereiche des Seelenlebens misstrauisch beäugt und in der Folge psychologische Phänomene in Zusammenhang mit Hypnotismus und Suggestion bewusst mit Okkultismus und Psychopathologie gleichgesetzt wurden.
Lesen Sie im vollständigen Artikel über die Hürden für die Erforschung und Integration spiritueller Erfahrungen in der Wissenschaft 🙂
Frage: In spirituellen Dimensionen erfährt Bewusstsein keine Ein- oder Abgrenzung. Erleben Sie bei den Persönlichkeiten, die in den Bereichen Bewusstseinsforschung und Spiritualität im wissenschaftlichen Bereich tätig sind, mehr Kooperation als Konkurrenz?
Prof. Kohls: Der Schuster hat oft die schlechtesten Schuhe. Oder wie Werner Heisenberg einmal gesagt hat: »Wissenschaft wird [auch nur] von Menschen gemacht.« Es sollten sich daher nicht nur Menschen, in deren Leben Spiritualität und Bewusstseinskultivierung ohnehin eine gewisse Rolle spielen, berufen fühlen, diese Bereiche zu untersuchen. Denn dies mag sicherlich zu Verzerrungseffekten führen.
Obwohl die Rolle der Intentionalität in wissenschaftlichen Experimenten gegenwärtig vermutlich nur rudimentär verstanden wird, bleibt festzuhalten: Allzu oft lesen wir das heraus, was wir hineinlegen.
Hier wäre sicher eine Haltung von Achtsamkeit auch beim Forschen nicht von Schaden: Sich nicht von Emotionen wegziehen lassen, sondern in der Gegenwart fokussierend und aufmerksam beobachten. Bei einigen Personen, die danach handeln, leben und forschen, habe ich festgestellt – so z. B. bei meinem Doktorvater – dass da noch eine ganz andere Tiefendimension durchscheint.
Frage: Was müsste sich Ihrer Meinung nach verändern, damit eine Art transzendente Dimension alltagstauglicher, kulturell präsenter und anerkannter werden könnte? Vielleicht gibt es ein Merkmal, an dem Sie eine deutliche Veränderung festmachen würden?
Prof. Kohls: Es ist sehr schwer, das Primat des materialistischen Reduktionismus aufzubrechen. Die westliche Welt beruht weitgehend auf der Fokussierung von Drill-down-Effekten, man spaltet alles immer weiter auf bis in die Biochemie – doch was ist der Erklärungsgehalt? Die Neurobiologie und Hirnforschung haben große Fortschritte gemacht. Auf der anderen Seite sagen Personen wie beispielsweise mein Habilitationsmentor Ernst Pöppel – und es gehört sicherlich Größe dazu, das zu sagen: Wir können nur staunend zur Kenntnis nehmen, wie aus einem Neuronenfeuerwerk Geist entsteht, wir können dies nicht erklären und müssen uns hüten, vorschnell Hypothesen und Annahmen zu treffen, die nicht evidenzbasiert sind. Und hier gilt es wahrscheinlich, ein produktives Spannungsverhältnis auszuhalten. Wenn man nicht in der Lage ist, das auszuhalten, sondern über Hürden und Grenzen der Erkenntnis hinweggeht und dabei Kategorienfehler und mereologische Fehlschlüsse in Kauf nimmt, ist das schädlich auch gerade in der Neurobiologie. Es gibt gewisse Grenzen, die wir nicht überschreiten können.
Das Interview führte Patricia Lüning-Klemm. Eine gekürzte Fassung des Interviews erschien in »Co.Med« im März 2018.
Über Prof. Dr. phil. Dr. habil. Niko Kohls
Seit 2013 Professor für Gesundheitswissenschaften im Bereich Gesundheitsförderung an der Hochschule Coburg. Fünfjähriges Senior-Scholarship am renommierten US-amerikanischen Samueli Institute. Habilitation an der medizinischen Fakultät der LMU München 2012. Zusammen mit seinen Kooperationspartnern hat er gerade das weltweit größte Projekt zum Thema Achtsamkeit am Arbeitsplatz beendet. Mehr als 80 wissenschaftliche Beiträge. 2013 Amalia-Preis für Neues Denken in der Kategorie Wissenschaft, 2014 Preis für exzellente Lehre an der Hochschule Coburg.
Dies sind Ausschnitte aus dem Artikel.
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Außergewöhnliche Erfahrungen (PDF)
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Prof. Dr. Niko Kohls
Außergewöhnliche Erfahrungen
Spiritualität in der psychologischen Forschung
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