20 Aug Das versprochene Paradies
Ein (Rück-)Blick auf die Sektenmechanismen
Autor: Marcus Zeller
Kategorie: Theologie
Ausgabe Nr: 84
Der Autor wuchs selbst in einer christlich-fundamentalistischen Glaubensgemeinschaft, in einer »Sekte« auf. Auch als Erwachsener identifizierte er sich vollständig mit diesem Glauben. Erst im Alter von Mitte 30 kam es zu Zweifeln, die schließlich zum Bruch und heute, zehn Jahre später, zu unterhaltsamen Reflexionen führen: Sind Sekten nur die extreme Ausprägung gesellschaftlicher »Normalität«? Ein Querschnitt einer Biografie und einige kritische Fragen.
Harmagedon – ein Wort, das eine ständige Präsenz in meinem Leben als Kind und Jugendlicher hatte. In seiner Bedeutung und Gewichtung lag es vermutlich höher als beispielsweise »Klimawandel« bei heutigen Heranwachsenden.
Harmagedon, der »Eingriff Gottes auf der Erde«, war Ziel und Ausrichtung, kataklysmische Katastrophe und Erlösung gleichzeitig. Bedrohlich hing es als Damoklesschwert über jedem Tag, denn »niemand kennt Tag und Stunde«, weshalb es sich dringend empfahl, immer ein gottgefälliges Leben zu führen, denn bei seinem Eintreffen zählte eben nur das.
Glaubensgemeinschaften mit einer eschatologischen Ausrichtung (die also auf das Ende der Welt hin ausgerichtet sind) sind eigentlich keine Glaubensgemeinschaften, sondern Hoffensgemeinschaften. Der Einzelne kann nur hoffen, dass er am Tage des Gottesgerichts »treu« geblieben ist: treu der Summe aller Lehren, die vom göttlich eingesetzten Kanal, dem Zentralorgan der Organisation, kolportiert werden. Klar, Inhalt und genaue Zusammensetzung dieser Lehren wandeln sich im Laufe der Zeit. Deshalb ist es wichtig, immer am Puls der Zeit zu sein, d. h. mit dem aktuellen Stand dieser Lehren vertraut zu sein. Das ist nur durch eine bedingungslose Nähe zur Gemeinschaft zu gewährleisten. Bedingungslos meint dabei auch, Form und Inhalt aller Lehren ohne Kritik zu übernehmen, denn darin zeige sich wiederum echter Glaube, der dann bei Eintreffen des Jüngsten Gerichts schicksalhaft entscheidend ist.
Wenn sich Glaube gerade dadurch auszeichnet, seine spezifische Form durch die Dynamik zu erhalten, dass er im Spannungsfeld zwischen Hoffen, Transzendenz, Kritik und Erfahrung im Individuum immer neu austariert wird, findet in der Sekte durch Dogmatisierung eine Verkehrung und Pervertierung dessen statt.
Es sind »Dimensionen von unvermeidlicher Ungewissheit, die durch Dogmatisierung in Gewissheit umgelogen werden«,
wie es Peter Sloterdijk auf den Punkt bringt (in: »Kritik der zynischen Vernunft«, S. 548). Diese Gewissheit wird dann als Indiz für die »Wahrheit« des Geglaubten gedeutet.
Ein un-authentisches Leben
Weil Harmagedon immer sehr nah war, quasi »vor der Tür« stand, waren die Anstrengungen in dieser Welt mit ihrer dahinschmelzenden Haltbarkeit auf ein Minimum zu beschränken. Die Lebenskraft setzt man bitte gern und großzügig für Gottes irdisches Werk ein. Ein Hochschulabschluss oder gar ein Studium war von vornherein ausgeschlossen, da dort die Konfrontation mit der Evolutionstheorie drohte, die den Glauben zu unterminieren vermochte. Das wussten mir meine Eltern auch überzeugend und mit großer Selbstverständlichkeit zu vermitteln. Es bedeutete praktisch, so schnell wie möglich die Schule abzuschließen und etwas »Brauchbares«, sprich etwas Lebenspraktisches zu lernen, denn das würde in der Zeit nach Harmagedon wichtig werden. Dann würde es gelten, aus dem Trümmerfeld, das Gottes gerechter Krieg hinterlassen hat, ein Paradies zu machen. Nach einer begonnenen Ausbildung zum Forstwirt, die ich wegen allzu heftigen Mobbings in der Schule abbrach, lernte ich Kfz-Mechaniker. Dort war ich ebenso falsch aufgehoben wie der Klosterschüler bei einer Berliner Straßengang. Aber da Leiden zum grundsätzlichen Selbstverständnis und damit zur alltäglichen und nicht zu hinterfragenden Wirklichkeit eines gottgefälligen Lebens gehörte, ging ich auch da durch.
Man ist eben nicht man selbst, man ist anders. Und man ist es irgendwie auch gern, denn Gott hat ein auserwähltes Volk, so das gemeinsame, identitätsstiftende Narrativ.
Sich als Teil dieses Volkes zu wissen, gleicht doch einiges aus. Dass dieses Volk eine homogene Masse darstellt, die durchgängig im Denken, im Weltverständnis und in ihrer Wertesetzung gleichgeschaltet ist, ist nicht weiter schlimm. Wir sind alle immerhin »Brüder und Schwestern«. Das vertraute »Du« simuliert Nähe und Vertrautheit. So heiratete ich auch mit 20 Jahren, weil ein unverheiratetes Zusammenleben nicht erlaubt ist. Natürlich war das nicht die Frau fürs Leben, aber Gott hatte ja »zusammengefügt« und würde das vollständige Glück im Paradies schon nachliefern. Im Grunde genommen spiegelte nichts in meinem Leben damals meine Persönlichkeit wider.
Möchten Sie wissen, wie es dem Autor gelang, sich von den Dogmen und Einengungen der Gemeinschaft zu lösen? Das können Sie im vollständigen Artikel lesen. (Bestellmöglichkeit am Ende des Beitrags!)
Beginnende Zweifel
Dieser Zustand stellte sich bei mir Mitte 30 ein, und er war meinem Hang zur Gründlichkeit zu verdanken. Tatsächlich glaubte ich, die »Organisation Gottes« deute lediglich Details der heiligen Schrift unzureichend, und es bedürfe nur der gründlichen Nachforschung, um die Widersprüche aufzuklären. Stattdessen wurden derer mehr, je tiefer ich grub. Ich verbrachte über ein Jahr lang jeden Abend mehrere Stunden damit, die Inhalte der Glaubenslehren zu überprüfen, und unterhielt einen engen E-Mail-Kontakt mit einem Freund, der sich bereits von der Gemeinschaft distanziert hatte, ohne dessen Unterstützung ich wahrscheinlich in eine noch tiefere seelische Krise gestürzt wäre.
Der Point of(k)no(w)Return ist schnell überschritten, verpflichtet man sich zur schonungslosen Ehrlichkeit mit sich selbst.
Die alte Heimat muss aufgegeben werden. Nach der inneren Kündigung verbleibt noch ein wenig Restschwung, besonders auch, um die freundschaftlichen Bindungen nicht allesamt sofort kappen zu müssen. Denn genau das ist in letzter Konsequenz nötig. Der Austritt ist ein Austreten aus einer warmen, aber engen Stube in eine weite, aber frische Welt. Nun müssen alle Fragen noch einmal beantwortet werden. Der Horizont ist auf einmal in weite Ferne gerückt. Das eigene Leben, die eigenen Werte müssen völlig neu justiert werden.
Wie das Leben innerhalb einer Hoffensgemeinschaft aussieht, finden Sie im vollständigen Artikel. ? Unten können Sie bestellen!
Warum glaubte ich diesen Glauben? Ich würde sagen, es waren mein Wunsch und meine Überzeugung, dass die Welt eine bessere sein könnte. Und auch, dass ich mit meinem Leben in diesem Glauben einen Beitrag dazu leisten könnte. Jetzt, über zehn Jahre danach, glaube ich immer noch, dass die Welt eine bessere werden könnte, aber nun frei von Dogmen. Ich erlebe jeden Tag frisch und neu. Eine gesunde Skepsis ist geblieben und ein kritischer Blick auf Eingefahrenes und Selbstverständlichkeiten. Es dauerte allerdings lange, bis ich lernte, die Prioritäten in meinem Leben selbst zu wählen und durchzusetzen und überhaupt meine spezifischen Bedürfnisse zu erkennen. Ich hatte bis dahin noch nie mein Leben gelebt. Ich entdecke auch immer wieder ein gewisses Getrieben-Sein in mir, eine drängende Rastlosigkeit, ein »schlechtes Gewissen« in Momenten der Ruhe und des Nichts-Tuns. Die Angst, wertvolle Zeit zu »vergeuden«, ist tief eingegraben in mir: Harmagedon drängt sozusagen noch immer.
2016 habe ich einen Ratgeber »Das versprochene Paradies« veröffentlicht. Darin beleuchte ich die inneren und äußeren Prozesse, die möglicherweise auf einen Ausstiegswilligen zukommen. Am Markt sind viele Aussteigerberichte erhältlich; doch ich wollte meine Erfahrungen in einer Weise nutzen, die anderen eine praktische Hilfe ist. Nach verschiedenen Aus- und Weiterbildungen berate ich heute Aussteiger und deren Angehörige online.
Dies sind Ausschnitte aus dem Artikel.
Erfahren Sie mehr über die Sektenmechanismen, und dass auch eine vermeintlich aufgeklärte Gesellschaft nicht völlig frei von diesen ist.
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Marcus Zeller
Das versprochene Paradies
Ein (Rück-)Blick auf die Sektenmechanismen
Der Autor wuchs selbst in einer christlich-fundamentalistischen Glaubensgemeinschaft, in einer »Sekte« auf. Auch als Erwachsener identifizierte er sich vollständig mit diesem Glauben. Erst im Alter von Mitte 30 kam es zu Zweifeln, die schließlich zum Bruch und heute, zehn Jahre später, zu unterhaltsamen Reflexionen führen: Sind Sekten nur die extreme Ausprägung gesellschaftlicher »Normalität«? Ein Querschnitt einer Biografie und einige kritische Fragen.
Über den Autor
Marcus Zeller ist Jahrgang 73 und Pädagoge. Neben der Beratung von Hilfesuchenden widmet er sich dem Wesentlichen im Leben: Familie, Musik und Philosophie.
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