Die Seele bei Platon

Die Seele bei Platon

Über die Selbsterkenntnis des Menschen

Autor: Sebastian Seeber
Kategorie: Philosophie
Ausgabe Nr: 95

Der altgriechische Philosoph Platon befasste sich intensiv mit der Bedeutung der Seele und hob ihre Wichtigkeit in seinen Schriften hervor. Für ihn war die Seele – wie auch für Aristoteles dreigeteilt –, und auf einen bestimmten Teil der Seele, nämlich den Logistikon, richtete er insbesondere seine Aufmerksamkeit, denn durch diesen erlangt der Mensch Selbsterkenntnis, ein weiterer essenzieller Aspekt der platonischen Lehre.

Die Wichtigkeit der Seele

Der Ausdruck ›Seele (ψυχή)‹ kommt in 32 der 36 platonischen Schriften vor und wird in 676 Textabschnitten zum Teil mehrfach gebraucht. Zudem beschreibt Sokrates seine Tätigkeit in der Apologie wie folgt:

»Nichts anderes tue ich, wenn ich umherlaufe, als sowohl die Älteren als auch die Jüngeren von euch davon zu überzeugen, sich weder um ihre Körper (σωμάτων) noch um ihr Vermögen (χρημάτων) eher zu kümmern und auch nicht so intensiv wie darum, dass ihre Seele so gut wie möglich werde (τῆς ψυχῆς ὅπως ὡς ἀρίστη ἔσται).« (apol. 30a–b, vgl. auch ebd. 29d–30a)

Die Seele ist ein fundamentales Anliegen der platonischen Philosophie. Im Phaidon heißt es sogar mit einem gewissen Augenzwinkern, die wahren Philosophen befassten sich mit nichts anderem als damit, »zu sterben und tot zu sein« (Phaid. 64a), wobei der Tod kurz darauf als »der Rückzug der Seele vom Körper (ἡ τῆς ψυχῆς ἀπὸ τοῦ σώματος ἀπαλλαγή)« (ebd. 64c) dargestellt wird.

Philosophieren heißt in diesem Sinne, sich so sehr wie möglich auf die Seele zu konzentrieren, und ganz besonders, wie sich zeigen wird, auf einen ihrer Teile: das Logistikon.

Doch warum interessiert sich Platon überhaupt für etwas so Unwägbares und Unsichtbares wie die Seele? Womit begründet er die Annahme ihrer Existenz, und wie kommt er dazu, von verschiedenen Teilen derselben zu sprechen?

Der vorliegende Artikel gibt einen Einblick in die platonische Seelenlehre und veranschaulicht die zentrale Rolle der Seele im platonischen Denken. Dabei muss vorausgeschickt werden, dass der Text nur einen Bruchteil aller Gedanken und Vorstellungen des platonischen Werkes wiedergeben kann. In erster Linie dient dieser unvollständige Überblick dazu, zu inspirieren und die Neugier am platonischen Denken zu wecken. Die Seele wird im Folgenden zunächst als Ganze in ihrem Verhältnis zu Mensch und Körper, anschließend in ihren Teilen betrachtet. Dabei liegt der Fokus auf den logischen Überlegungen, die sogar ihre Unsterblichkeit zu zeigen versuchen. Ein Exkurs zur Bedeutung des Mythos schließt den Artikel ab.

Römische Kopie eines griechischen Platonporträts, das wohl von Silanion stammt und nach dem Tod Platons in der Akademie aufgestellt wurde, Glyptothek München.
Römische Kopie eines griechischen Platonporträts, das wohl von Silanion stammt und nach dem Tod Platons in der Akademie aufgestellt wurde, Glyptothek München.

Selbsterkenntnis: Die Seele ist der Mensch

In einem für die moderne Anthropologie durchaus bezeichnenden Aufsatz mit dem Titel Was ist der Mensch? gelingt es dem Autor, den Ausdruck ›Seele‹ nicht ein einziges Mal zu erwähnen. Die Seele scheint in Philosophie und Wissenschaft bisweilen bis zur Bedeutungslosigkeit verkannt und der Seelenbegriff für den aufgeklärten Menschen entbehrlich geworden zu sein. Bei Platon hingegen sind Mensch und Seele identisch: »Ist es also nötig«, fragt Sokrates, »dir irgendwie noch deutlicher darzulegen, dass die Seele der Mensch ist (ὅτι ἡ ψυχή ἐστιν ἄνθρωπος).« (Alk. 1 130c) Sie ist dabei kein Gegenstand des Glaubens, sondern der vernunftgeleiteten Erkenntnis, namentlich der Selbsterkenntnis, wie sie die berühmte Formel über dem Apollontempel in Delphi fordert: »Erkenne dich selbst (γνῶθι σαυτόν)!« (ebd. 124b, Prot. 343b, Charm. 164e)

Der obigen Aussage geht im Alkibiades folgende Argumentation voraus: Der Mensch sei entweder (i) Körper oder (ii) Seele oder (iii) beides zusammen (vgl. Alk. 1 130a). Da der Mensch den Körper jedoch gebraucht – beispielsweise gebraucht Sokrates seinen Mund zum Sprechen – und das Gebrauchte vom Gebrauchenden offenbar verschieden ist, so kann der Mensch weder der Körper noch beides zusammen sein, sondern allein die Seele, da nur diese den Körper als ihr Werkzeug gebrauchen kann (für das ganze Argument vgl. ebd. 129b–130c).

Vor diesem Hintergrund erscheint die moderne Frage, ob der Mensch eine Seele habe, paradox und amüsant. Die eigentliche Frage ist, ob die Seele sich selbst als solche erkennt oder sich mit dem Körper verwechselt und dabei selbst vergisst. Als Kriton Sokrates kurz vor dessen Tod fragt: »Auf welche Weise sollen wir dich bestatten?« (Phaid. 115c), antwortet dieser: »Wie auch immer ihr wollt, wenn ihr mich denn kriegt und ich euch nicht entwische!« (ebd. 115c) Dann lacht er sanft auf und scherzt darüber, dass Kriton ihn immer noch mit seinem Körper verwechsle.

Über die Selbsterkenntnis des Menschen

Die Seele im Verhältnis zum Körper

Das Verhältnis von Körper und Seele wird im Verständnis des Todes als »Rückzug der Seele vom Körper« (Phaid. 64c) deutlich. Tot zu sein, bezeichnet den Zustand, in dem Körper und Seele voneinander getrennt sind (vgl. ebd. 64c). Der reine Körper ist der Leichnam (ὁ νεκρός), das immer passive Mittel und Werkzeug, das erst durch die Wirkung der Seele ein (scheinbares) Eigenleben erhält. Ebenso wie des Menschen Kleidung schlaff und regungslos liegt oder hängt, wann immer sie nicht vom lebendigen Menschen bewegt und getragen wird, so ergeht es auch dem von der Seele getrennten Leib:

»Jeder Körper nämlich, welchem [nur] von außen (ἔξωθεν) das Bewegt-Werden [zukommt, der heißt] unbeseelt (ἄψυχον), welchem aber von innen (ἔνδοθεν), ganz aus sich selbst heraus (αὐτῷ ἐξ αὑτοῦ), [der heißt] beseelt (ἔμψυχον), als wenn dies die Natur der Seele sei.« (ebd. 245e)

Die Seele dagegen ist ihrem Wesen nach das Prinzip des Lebens und der Bewegung, sie ist »das, was sich selbst bewegt, (τὸ αὑτὸ κινοῦν) […] die Quelle und Ursache der Bewegung (πηγὴ καὶ ἀρχὴ κινήσεως) […] für alles andere, was bewegt wird« (Phaidr. 245c). Sie ist, »wodurch wir leben (ᾧ ζῶμεν)« (rep. 445a). Allem Lebendigen ist diese Selbstbewegung zu eigen, wobei auch das Wachstum eine Bewegungsform darstellt (zu den zehn Arten der Bewegung vgl. nom. X 893b–894c). Die offenbar zielgerichtete Bewegung muss eine Ursache haben: das Selbstbewegte, das die Seele ist. Die Selbstbewegung der Lebewesen ist folglich die Wirkung der den Körper belebenden Seele (vgl. Phaidr. 246c) und »das Ganze zusammen wurde Lebewesen (ζῷον) genannt, die Seele und der befestigte Körper« (ebd. 246c).

Dies ist nur der Anfang des Artikels.

Erfahre im vollständigen Artikel mehr über das platonische Denken und seiner Suche nach der Wahrheit. Dabei wird dieses Denken von der Vernunft geleitet, die das Tor zur Selbsterkenntnis ist und in Gotteserkenntnis mündet.
Der Beitrag ist in Tattva Viveka 95 erschienen.

Tattva Viveka 95

Tattva Viveka Nr. 95

Inhalt der Ausgabe

Schwerpunkt: Seele
Erschienen: Juni 2023

Maik Hosang – Ein metamoderner Begriff der Seele. Der zentrale Moment von zukunftsfähiger Psychologie und Philosophie, Kultur und Gesellschaft • Ronald Engert – Seele, Körper und Befreiung in der Bhagavad-gītā. Leben in der göttlichen Ordnung • Dr. Jens Heisterkamp – Die Seelen-Lehre Rudolf Steiners. Von den drei seelischen Dimensionen • Sebastian F. Seeber – Die Seele bei Platon. Über die Selbsterkenntnis des Menschen • Dieter Schnocks – C. G. Jungs Verständnis der Seele. Grundlagen des Modells der Analytischen Psychologie • Samuel Eckhart – Die Ogdoadische Tradition. Rückkehr im Lebendigen Licht des Glorreichen Sterns • Nora Philine Hansing – Die Revolution der Seele. Wegweiser in eine erwachte Kultur der Allverbundenheit • Stefanie Aue – Göttinnen im Tantra. Die zehn göttlichen Erkenntniswege der Dasha Maha Vidyas (Teil 2) • Akambi Oluwatoyin – Charakter ist Spiritualität. Warum die Charakterbildung in der Nago-Tradition die Grundlage für Spiritualität darstellt • Armin Denner – Der esoterische Tarot. Wahrsagerei oder »Die Wahrheit sagen«? • Christiane Krieg – Krafttiere. Spirits der Schamanen • Gerlinde Henriette Stärk – Wieder erinnern lassen. Von meiner erwach(s)enden Liebe zur Erde • u.v.m.

+ Mehr zum Inhalt

Wähle: Einzelheft, Abo oder Membership

Digitale Ausgaben im Format PDF/ePUB/mobi

GEDRUCKTE AUSGABE 33,00€/JAHR

4x jährlich, kostenloser Versand in Deutschland

DIGITALE AUSGABE 24,00€/JAHR

4 x jährlich als PDF/ePUB/mobi downloaden

Jetzt machen wir ALLES
online verfügbar:

TATTVA MEMBERS - ÜBERSICHT

Alle Beiträge, alle Videos!

Zum Autor

Unser Autor Sebastian F. Seeber

Sebastian F. Seeber (M. A.) absolvierte sein Studium in Gräzistik, Philosophie und klassischer Philologie an der HU Berlin, wo er seit 2020 Alt-Griechisch unterrichtet. Er ist Privatlehrer und Gründer des Carpe Kairon Instituts. Daneben arbeitet er an einer modernen Platon-Übersetzung und der gelebten Verwirklichung platonischer Philosophie. Kontakt: seeberse@hu-berlin.de

Keine Kommentare

Kommentar abgeben