19 Jan Die Unterwelt – Das Reich des Unbewussten
Autor: Clemens Zerling
Kategorie: Griechische und Aegyptische Antike
Ausgabe Nr: 81
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Ein Hinabstieg in die Seelentiefe verlangt allen heldischen Mut
Bereits in der Antike findet sich häufig das Motiv des Hinabsteigens in die Unterwelt, von der babylonischen Göttin Ištar über den griechischen Helden Odysseus bis zu Orpheus, der seine Geliebte aus der tiefen Finsternis zurückholen wollte. Doch welche Bedeutung hat die Unterwelt, die auch als das Unbewusste und das Reich der Träume gedeutet wird, und was suchen die mythischen Figuren in diesem Reich? Gemeinsam mit dem Autor begeben wir uns auf eine Reise in die Finsternis, in die Stille, in den Urgrund des Seins.
Ein Hinabstieg (Katábasis) in die Seelentiefe verlangt allen heldischen Mut
Voller blindwütigen Zorns und finsterster Rachegelüste steigt die babylonische Ištar (vermutlich = [Venus-]Stern), Göttin des Himmels und der Erde, in die Unterwelt hinab, in das »Reich ohne Wiederkehr«. Sie, zugleich Herrin aller kriegerischen Auseinandersetzungen, will die zahlenmäßig überlegenen Toten aufwiegeln, alle Lebenden auf Erden zu vernichten. Einen Grund dafür erfahren wir nicht. Doch in der Unterwelt regiert allein ihre Schwester Ereshkigal (= Herrin des großen Unten), und so verweigert deren Torwächter Namtar (= Schicksal) den Zugang. Wutentbrannt droht Ištar, das Tor zu zertrümmern. Ereshkigal, von diesem leidigen Besuch unangenehm überrascht, willigt nach einer heftig geführten Aussprache schließlich ein, Ištar in ihr Reich eintreten zu lassen. Doch stellt sie dafür harte Bedingungen. Ištar habe beim Durchschreiten von jedem der sieben Tore eines ihrer Insignien abzulegen: Diadem, Ohrringe, Halskette, Gewandnadel, Gürtel mit Geburtssteinen, Arm- und Fußreifen. Beim siebten Tor muss sie selbst ihr Gewand abstreifen und ist gänzlich nackt. Zuletzt, vollends gedemütigt durch geduckte Haltung – ähnlich Toten in sumerischen Hockergräbern –, unterscheidet sich Ištar durch nichts mehr von anderen Verstorbenen. Obendrein belegt sie der Torhüter Namtar im Auftrag ihrer Schwester mit 60 Krankheiten, die ihr jede Lebenskraft rauben. In ihrer Abwesenheit aber, synchron mit ihrem Siechtum, stockt alles Leben auf Erden. Keine Saat gelangt zur Reife, Menschen und Tiere sind unfähig, sich zu paaren. Der gesamten Oberwelt droht Untergang. Besorgt schickt Ereshkigal einen Boten zu Ea, androgyne Gottheit der Weisheit und der Wasser.
Auch wenn »sieben Tore der Verwandlung« sich zunächst auf den abnehmenden Mond beziehen dürften, lassen die »Durchgänge« Stufen eines sehr alten weiblichen Einweihungsweges erahnen. Zahllose Schwellen- und Eingangsriten in den Kulturen der Menschheit zeugen von dem Respekt gegenüber dem Großen Weiblichen in dessen zwiespältigem Aspekt. Nun haben sich unterschiedliche Fassungen vom Abstieg der Ištar (sumerisch: Inanna) in die Unterwelt oder »Hölle« erhalten, ein Mythos, dessen älteste sumerische Version mindestens bis zum Beginn des 3. Jahrtausends v. Chr. zurückreicht. Wie auch immer Einzelheiten variieren: Stets findet es »die Weisheit« sinnvoll, dass Ištar in ihr eigentliches Reich zurückkehrt – mit ihren Insignien. Allerdings muss die dunkle Ereshkigal ihre lichte Schwester vorher mit dem Wasser des Lebens reanimieren. In der hier zusammengefassten jüngeren babylonischen Fassung sprudelt dieses Elixier nur direkt im Unterweltlichen, und nur die Herrin des Todes besitzt das Verfügungsrecht.
Die Toten sind uns recht nah
Eine Katábasis führte u. a. ins Totenreich, und dies erforderte wirklich Mut. Schließlich verlief eine Begegnung mit den Schatten der Verstorbenen in dem »Jenseits von Gut und Böse« nicht immer glimpflich. Homers Protagonist seines Epos Odyssee stieg in diese Welt hinab, um Auskünfte zu erlangen. Wie könne er, Odysseus, auf bestem Wege nach dem sonnigen Ithaka zurückfinden, seiner Heimatinsel und Sinnbild für die lichte Urheimat jeder nach Irrfahrten sich zurücksehnenden Seele. Schwarz von Verwesung oder fahl wie Luftgebilde heischten die drohenden Schatten der Abgeschiedenen und Ahnen einst nach frischem Blut, um kurzfristig wieder Lebenskraft zu gewinnen. Nur dann zeigten sie sich eventuell bereit, gesuchte Informationen preiszugeben. Mit der Wahrheit waren sie aber nicht immer gut vertraut.
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Das Reich der Toten liegt in unserem Unbewussten
Im Traum und in Zuständen von sog. Nahtod-Erfahrungen oder unerwarteter Offenheit für das Unbewusste können uns plötzlich Tote überraschen. Sie nahen freiwillig, bleiben dafür aber stumm: Enge Familienangehörige und Ahnen steigen aus diesem Jenseits an die Oberfläche, gewöhnlich in altbekannter Gestalt, oder auch Unbekannte. Mitunter nehmen sie drängende Erwartungshaltung an: Für den Indologen und Keltologen Heinrich Zimmer († 1943) demonstrieren sie im Grunde das »weiter währende, entrückt gegenwärtige Gesicht des unvergänglichen Lebens: die Nachtseite seiner unzerstörbaren Kraft, seiner unversieglichen Lust zu sich selbst«; »besinnungsloser Drang des Lebens zu seinem eigenen Fortbestand, in lockend prangender Gestalt oder in armer, drohender Unheimlichkeit« (1987: 270 f.). Eine (Rück-)Identifikation mit Ahnen ganz allgemein integriert das Unbewusste mit seinen Ressourcen und seinen Regenerierungspotenzen, so C. G. Jung. Es biete ein »Erneuerungsbad in der Lebensquelle, wo man wieder Fisch ist, das heißt, unbewusst wie im Schlafe, in der Trunkenheit und im Tode«.
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Im Meer des Unbewussten ist also jene »schwer erreichbare« Kostbarkeit verborgen. Für C. G. Jung umschrieb dieses Juwel überdies den »Ewigen Gefährten«. Wer aber ist das? Wer geht neben und mit uns durchs Leben? Mythen, Legenden und Heilige Schriften präsentieren das Motiv eines persönlichen und zugleich unpersönlichen Weggefährten, der im rechten Augenblick zur Stelle ist. Seit dem Mittelalter geistert er mit unscharfen Zügen in Gestalt des »getreuen Eckhard« durch unsere Märchen. Im Koran berichtet die 18. Sure von Moses und einem merkwürdigen Diener. Islamische Exegeten nannten ihn al-Chiḍr (= der Grüne) oder Chidher, »Sohn der Wassertiefe«. Dieser Gehilfe Allahs repräsentiert dessen undurchsichtiges, aber weises Wirken auf Erden, zugespitzt im notwendigen Wandel. Er hat gleich mehrfach vom Wasser des Lebens getrunken und nimmt Züge des antiken Seelengeleiters Hermes an oder unseres Höheren Selbst. »Grün« kann hier, im Zuge spiritueller Entdeckung von Wirklichkeit, den letzten Schleier der Seele vorstellen, hinter dem sich das Paradies verbirgt. Mitunter neigt Chidher zu unlogischen oder scheinbar destruktiven Handlungen, in die sich laut Koran der alte Moses peinlich verstrickte. Es spiegelt u. a. die häufige Verführung des Menschen durch den äußeren Schein.
Über den Autor
Clemens Zerling, geb. 1951, in Berlin nach dem Studium der Politologie 1979 Gründung eines eigenen Verlages mit Schwerpunkt Kultur- und Religionsgeschichte, Völkerkunde und hermetische Philosophie; seit 2000 als Autor und freier Journalist tätig; zahlreiche Veröffentlichungen in den Bereichen Kult- und Kulturgeschichte, Brauchtum und Lexika zur Symbolik.
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Clemens Zerling
Die Unterwelt – Das Reich des Unbewussten
Bereits in der Antike findet sich häufig das Motiv des Hinabsteigens in die Unterwelt, von der babylonischen Göttin Itar über den griechischen Helden Odysseus bis zu Orpheus, der seine Geliebte aus der tiefen Finsternis zurückholen wollte. Doch welche Bedeutung hat die Unterwelt, die auch als das Unbewusste und das Reich der Träume gedeutet wird, und was suchen die mythischen Figuren in diesem Reich? Gemeinsam mit dem Autor begeben wir uns auf eine Reise in die Finsternis, in die Stille, in den Urgrund des Seins.
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Jens Adolf Frese
Gepostet am 12:55h, 19 Januarvielen Dank für den Artikel. Ja die unterwelt ist ein Ort der wiedergeburt. Ich erlebe den Zugang dorthin als Geborgenheit Frieden Ruhe schlafen dort ist heilig. Die guten Geister sind dort die unterwelt ist auch gleichzeitig die Welt die alles miteinander verbindet.