28 Feb Kreativität bei selbstverwirklichenden Menschen
Schöpferisches Tätigsein aus der Tiefe des geheilten Selbst
Autor: Abraham Maslow
Kategorie: Psychologie
Ausgabe Nr: 74
Ist Kreativität etwas allen Menschen Innewohnendes? Ist jeder Mensch ein Schöpferwesen? Was unterscheidet primäre von sekundärer und integrierter Kreativität? Abraham Maslow verdeutlicht, was die Essenz von wahrer Kreativität ausmacht und wie sie mit einer geheilten und in sich integrierten Person in Zusammenhang steht. Der Text von 1971 erscheint hier erstmals in der deutschen Fassung.
Ich musste meine Vorstellungen von Kreativität erstmals ändern, als ich begann, Menschen zu studieren, die absolut gesund, hochentwickelt, gereift und selbstverwirklichend waren. Erstmals musste ich meine klischeehafte Vorstellung, dass Gesundheit, Genie, Talent und Produktivität synonymisch wären, aufgeben. Viele meiner Probanden, obwohl gesund und kreativ in einem speziellen Sinn, den ich beschreiben werde, waren nicht produktiv im gewöhnlichen Sinne, auch hatten sie kein großes Talent oder Genie oder waren Dichter, Komponisten, Erfinder, Künstler oder kreative Intellektuelle. Es war auch offensichtlich, dass manche der größten Talente der Menschheit definitiv nicht psychologisch gesund waren, Wagner zum Beispiel oder van Gogh oder Byron. Manche waren es und manche waren es nicht, das war klar. Ich musste sehr schnell zu dem Schluss kommen, dass großes Talent nicht nur mehr oder weniger unabhängig von Gesundheit des Charakters war, sondern auch, dass wir wenig darüber wissen. Beispielsweise gibt es einige Belege darüber, dass großes musikalisches und mathematisches Talent eher vererbt wird als erworben.
Es schien dann klar, dass Gesundheit und spezielles Talent separate Variablen waren.
Es schien dann klar, dass Gesundheit und spezielles Talent separate Variablen waren, vielleicht leicht korreliert, vielleicht nicht. Wir können genauso gut zu Anfang zugeben, dass Psychologie sehr wenig über spezielle Talente des Genie-Typs weiß. Ich werde daher nichts mehr darüber sagen und beschränke mich stattdessen auf die weiter verbreitete Art von schöpferischer Kraft, die das universelle Erbe eines jeden menschlichen Wesens ist, das geboren wird, und die mit psychologischer Gesundheit zu kovariieren scheint.
Die Kreativität meiner Probanden ist eine Begleiterscheinung ihrer größeren Ganzheit und Integration, was Selbstakzeptanz bedeutet. Der Bürgerkrieg innerhalb einer durchschnittlichen Person zwischen den Kräften von innerer Tiefe und den Kräften von Verteidigung und Kontrolle scheint in meinen Probanden gelöst zu sein und sie sind weniger gespalten. Als Konsequenz ist mehr ihres Selbst zur Nutzung verfügbar, für Vergnügen und für kreative Zwecke. Sie verschwenden weniger ihrer Zeit und Energie, um sich vor sich selbst zu schützen.
Großartigkeit durch ganzheitliche Integration
Eine Beobachtung, die ich machte, hat mich für viele Jahre verblüfft, aber fängt jetzt an, klar zu werden.
Es war, was ich als Auflösung der Dichotomie bei selbstverwirklichenden Personen bezeichnete.
Kurz gefasst, ich bemerkte, dass ich viele Oppositionen und Polaritäten, die alle Psychologen als geradlinige Kontinua vorausgesetzt hatten, anders betrachten musste. Beispielsweise, um die erste Dichotomie zu nehmen, mit der ich Probleme hatte, konnte ich mich nicht entscheiden, ob meine Probanden selbstsüchtig oder selbstlos waren. (Beobachte, wie spontan wir hier in ein Entweder-oder verfallen. Je mehr des einen, desto weniger des anderen ist die Schlussfolgerung des Stils, in dem ich die Frage gestellt habe.) Jedoch war ich durch den schieren Druck des Faktes gezwungen, diesen aristotelischen Stil der Logik aufzugeben. Meine Probanden waren sehr selbstlos in einem Sinne und sehr selbstsüchtig in einem anderen. Und die beiden vereinigten sich, nicht wie inkompatible Komponenten, sondern in einer sensiblen, dynamischen Einheit oder Synthese, sehr ähnlich dem, was Fromm in seiner klassischen Abhandlung von gesunder Selbstsucht beschrieben hat. Meine Probanden hatten Gegenteile in einer solchen Art zusammengeführt, dass es mich realisieren ließ, dass die Betrachtung von Selbstsucht und Selbstlosigkeit als widersprüchlich und einander ausschließend in sich selbst Eigenschaft eines niedrigeren Levels von Persönlichkeitsentwicklung war.
Aber das ist präzise das, was ein großartiger Künstler macht.
Er ist in der Lage, sich beißende Farben, sich bekämpfende Formen, Dissonanzen aller Art in eine Einheit zu bringen. Und es ist auch, was der großartige Theoretiker tut, wenn er verwirrende und widersprüchliche Fakten zusammenfügt, damit wir sehen können, dass sie wirklich zusammengehören.
Und das gilt genauso für den großartigen Staatsmann, den großartigen Therapeuten, den großartigen Philosophen, den großartigen Elternteil, den großartigen Erfinder. Sie sind alle Integrierende, fähig, Einzelteile und sogar Gegenteile in einer Einheit zusammenzubringen.
In dieser Fassung sind Auszüge aus dem Artikel wiedergegeben. Den vollständigen Artikel gibt es im Pdf ( 7 Seiten), das unten bestellt werden kann.
Primäre, sekundäre und integrierte Kreativität
Mit klassischer Freud’scher Theorie können wir für unsere Zwecke wenig anfangen. Ihr wird sogar teilweise durch unsere Daten widersprochen. Sie ist (oder war) essenziell eine Es-Psychologie, eine Untersuchung der instinktiven Impulse und deren Wechselfälle, und die grundlegende Freud’sche Dialektik wird letztlich zwischen Impulsen und Verteidigungen gegen diese Impulse gesehen. Aber viel entscheidender als unterdrückte Impulse sind für das Verständnis der Quellen der Kreativität (ebenso wie Spiel, Liebe, Enthusiasmus, Humor, Imagination und Fantasie) die sogenannten primären Prozesse, die grundsätzlich eher kognitiv als konativ sind. Sobald wir unsere Aufmerksamkeit diesem Aspekt der menschlichen Tiefenpsychologie widmen, finden wir viel Einvernehmen zwischen der psychoanalytischen Ich-Psychologie – Kris, Miller, Ehrenzweig, C. G. Jung – und der amerikanischen Selbst-und-Wachstums-Psychologie.
Die normale Anpassung des durchschnittlichen, vernünftigen, gut angepassten Mannes impliziert eine kontinuierlich erfolgreiche Ablehnung gegenüber vielen Tiefen der menschlichen Natur, sowohl konativ als auch kognitiv.
Sich gut an die Welt der Realität anzupassen, bedeutet eine Teilung der Person.
Lesen Sie im vollständigen Artikel mehr über integrierte Kreativität 🙂
Das Fazit all dieser Entwicklungen kann zusammengefasst werden als gesteigerte Betonung der Funktion der Integration (oder Selbstkonsistenz, Einheit, Ganzheit) in der Theorie der Kreativität. Eine Dichotomie in eine höhere, inklusivere Einheit aufzulösen, läuft auf die Heilung einer Spaltung in der Person hinaus und macht sie integrierter. Da die Spaltungen, von denen ich sprach, innerhalb der Person sind, führen sie zu einer Art Bürgerkrieg, zu einer Situation, in der ein Teil der Person gegen einen anderen Teil der Person ist. Jedenfalls, wenn es um selbstverwirklichende schöpferische Kraft geht, scheint sie unmittelbarer durch Vereinigung von Primär- und Sekundärprozessen zu kommen als vom Durcharbeiten unterdrückerischer Kontrolle von verbotenen Impulsen und Wünschen. Es ist natürlich wahrscheinlich, dass Verteidigungen, die durch Angst vor diesen verbotenen Impulsen aufkommen, die Primärprozesse in eine Art totalen, unterschiedslosen, panischen Krieg auf allen Tiefen runterdrücken. Aber es scheint, als sei ein solcher Mangel an Unterscheidung prinzipiell nicht nötig.
Um zusammenzufassen: Selbstverwirklichende schöpferische Kraft betont zuerst die Persönlichkeit anstelle ihrer Leistungen, berücksichtigend, dass diese Leistungen Begleiterscheinungen sind, die von der Persönlichkeit emittieren und daher zweitrangig hinter ihr stehen. Sie betont charakterologische Qualitäten wie Kühnheit, Mut, Freiheit, Spontanität, Klarheit, Integration, Selbstakzeptanz, also all jene Eigenschaften, die die Art generelle selbstverwirklichende schöpferische Kraft möglich machen, die sich im kreativen Leben der Person ausdrückt. Ich betonte außerdem die expressive oder Seins-Qualität der selbstverwirklichenden schöpferischen Kraft anstelle ihrer problemlösenden oder produzierenden Qualität. Selbstverwirklichende schöpferische Kraft wird »emittiert« oder ausgestrahlt und betrifft das ganze Leben, unabhängig von Problemen, so wie eine fröhliche Person Fröhlichkeit ohne Absicht oder sogar Bewusstsein »emittiert«. Sie strahlt wie Sonnenschein, sie verbreitet sich überall, sie lässt Dinge wachsen (die wachstumsfähig sind) und ist an Steine oder nicht wachstumsfähige Dinge verschwendet.
Schließlich bin ich mir ziemlich bewusst darüber, dass ich versuchte, weitgehend akzeptierte Konzepte der Kreativität aufzubrechen, ohne im Austausch in der Lage zu sein, ein klar definiertes Austauschkonzept zu liefern. Selbstverwirklichende schöpferische Kraft ist schwer zu definieren, weil sie manchmal synonymisch mit der Gesundheit selbst scheint, wie Moustakas vorgeschlagen hat. Und da Selbstverwirklichung oder Gesundheit letztlich als vollste Menschlichkeit oder als das »Sein« der Person gilt, scheint es, als ob auch »selbstverwirklichende Kreativität« fast synonymisch mit, oder mit anderen Worten eine definierende Eigenschaft von essenzieller Menschlichkeit ist.
Editorische Anmerkung
Der Text erschien in: Abraham Maslow, The Maslow Business Reader. Seiten 21–30.
Übersetzt auf Anregung von Maik Hosang durch Jenny Beck, Studentin im Studiengang Kultur und Management an der Hochschule Zittau/Görlitz
Die „schöpferische Kraft“ von selbstverwirklichenden Menschen erwähnte Maslow in seinen vorherigen Werken über Selbstverwirklichung nur kurz. Der vorliegende Text, eine überarbeitete Version einer am 28. Februar 1959 an der Michigan State Universität gehaltenen Vorlesung, repräsentiert seinen ersten Versuch, das Thema auszuweiten. Seine späteren Forschungen über schöpferische Kraft/Kreativität können in den Kapiteln 4, 5, 6 und 7 seiner posthum veröffentlichten Sammlung von Essays, genannt The Farther Reaches of Human Nature (New York: Viking Press, 1971), gefunden werden.
Über den Autor
Abraham Harold Maslow (* 1. April 1908 in Brooklyn, New York City; † 8. Juni 1970 in Menlo Park, Kalifornien) war ein US-amerikanischer Psychologe. Er gilt als ein Gründervater der Humanistischen Psychologie und führte 1954 den Begriff Positive Psychologie ein.
Er ist insbesondere durch die Maslowsche Bedürfnispyramide bekannt geworden, die ein Entwicklungsmodell der Hierarchie menschlicher Bedürfnisse darstellt. Sein Werk reicht jedoch weiter, da Maslow die Wissenschaft vom Menschen insgesamt neu orientieren wollte. In seinen letzten Lebensjahren wurde er zu einem der Begründer der Transpersonalen Psychologie. In diesem Zeitraum ergänzte er die fünf Stufen der Bedürfnishierarchie um eine sechste, das Bedürfnis nach Transzendenz.
Dies sind Ausschnitte aus dem Artikel.
Erfahren Sie mehr über das kreative Potential integrierter Menschen.
Die vollständige Fassung des ersten Teils lesen Sie in der Tattva Viveka 74 . Auch für 2,00 € als ePaper erhältlich (Pdf, 7 Seiten).
Kreativität bei selbstverwirklichenden Menschen (PDF)
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Prof. Dr. Abraham Maslow
Kreativität bei selbstverwirklichenden Menschen.
Schöpferisches Tätigsein aus der Tiefe des geheilten Selbst
Ist Kreativität etwas allen Menschen Innewohnendes? Ist jeder Mensch ein Schöpferwesen? Was unterscheidet primäre von sekundärer und integrierter Kreativität? Abraham Maslow verdeutlicht, was die Essenz von wahrer Kreativität ausmacht und wie sie mit einer geheilten und in sich integrierten Person in Zusammenhang steht. Der Text von 1971 erscheint hier erstmals in der deutschen Fassung.
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