Vom kleinen Ich zum großen ICH BIN

Vom kleinen Ich zum großen ICH BIN

Seele und Bewusstsein in der christlichen Mystik

Autor: Marion Küstenmacher
Kategorie: Theologie
Ausgabe Nr: 86

Die evangelische Theologin und Autorin Marion Küstenmacher gibt einen Einblick in die non-duale Mystik des Christentums, dessen Vertreterinnen und Vertreter lange Zeit von der christlichen Obrigkeit verunglimpft und als Häretiker bestraft wurden. Dies hielt die Mystiker und Mystikerinnen jedoch nicht davon ab, sich der Erforschung der Seele und der Transformation ihres Bewusstseins zu verschreiben, um sich aus den Fängen des Egos und Egoismus zu befreien hin zur Schau Gottes und der non-dualen Erleuchtung.

Wenn man mittelalterliche Texte liest, kann es einem schaudern, sobald es um das Ich geht. Schwer mit Sünde beladen war es ein verwerfliches Ding. Alles Ich, mir, mein kam vom Teufel. Das falsche Ich musste sich demütigen, kreuzigen, abtöten. Sich etwas Gutes zuzurechnen, war eitel und Anmaßung. Rettung bot ein Leben in Gehorsam gegen Kirche und Obrigkeit. In der Moderne ging es darum, das Ich aufzuklären und aus der selbst verschuldeten Unmündigkeit herauszuführen.

Zum Freiheitsprojekt des selbstbestimmten Ichs gehörte es nun, für sein Lebensglück und Seelenheil selbst sorgen zu müssen.

Das führte im negativen Fall bis zur Egozentrik einer rein diesseitig orientierten, materialistischen Ellenbogengesellschaft.

In der Postmoderne angekommen erlebt sich das Ich nun als einzig verlässlichen Bezugspunkt in einer fragmentarisch gewordenen Welt.

Notgedrungen hält es sich für den Nabel der Welt und verlangt, dass auf alle seine Befindlichkeiten Rücksicht genommen wird – ein Subjektivismus, der in Narzissmus umschlagen kann. Ist dem Ich also doch nicht zu trauen? Muss es unausweichlich durch Therapie gestützt werden, um überhaupt mit sich und der Welt noch irgendwie klarzukommen? Oder haben wir gar kein Ich, ist es eine reine Illusion, wie es östliche Schulen lehren? Dem gegenüber steht das anschwellende Feld wissenschaftlicher Studien zur Ich-Struktur und zu seiner Entwicklung. Man sollte also schauen, was Psychologie einerseits und Mystik andererseits zusammen über Ich, Seele, Zeuge und wahres Selbst sagen können.

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Ein gesundes Erwachsenen-Ich entwickeln

Mit dem Ich (oder Ego) sind wir im manifesten Zustand unseres alltäglichen Wachbewusstseins identifiziert. Etabliert hat es sich etwa im Alter zwischen zwei und drei Jahren. Manche Menschen können sich sogar an den unvergesslichen Moment dieser Ich-Geburt erinnern, etwa der Dichter Jean Paul (1763–1825). Ihm fuhr als kleinem Buben die Erkenntnis »Ich bin ein Ich« wie ein »Blitzstrahl vom Himmel« ins Bewusstsein: »Da hatte mein Ich zum ersten Male sich selber gesehen und auf ewig.« Als eine Art Organisator oder Direktor unserer Persönlichkeit bewertet, bündelt und verarbeitet das Ich Informationen, Gefühle, Erlebnisse, Erinnerungen. Es ist ein handelnder Agent, dessen Aufgabe es ist, einen schlüssigen Sinn in Bezug auf das eigene Erleben zu produzieren. Dank dieser Integrationsleistung stellt sich ein stabiler Verbund im Ich-Gefühl ein, was als »selfing« bezeichnet wird. Das Ego kann sich selbst außerdem sowohl als Subjekt (der erkennende Teil in mir, »Ich«) als auch als Objekt betrachten (der zu erkennende Teil in mir, was ich über mich denke, »meins«).

Was ein gesundes Erwachsenen-Ich noch leistet, lesen Sie im vollständigen Artikel von Marion Küstenmacher. Diesen können Sie unten downloaden!

Das subtile Reich der Seele erforschen

Dazu gehört freilich, dass dabei tiefere individuelle und kollektive Schichten ins Spiel kommen, die das Alltags-Ich nicht ohne Weiteres kontrollieren kann. Paulus unterschied das Ich (den natürlichen Menschen, der sich um weltliche Dinge kümmert) von der Seele (dem geistlichen Menschen, der sich mit geistlichen Dingen befasst). Meister Eckhart (1260–1328) sprach vom Ich als »äußerem Menschen« und von der Seele als »inwendigem, nach innen gewendetem Menschen«. Den Zugang nach innen öffnet eine unbestimmte, aber nicht unterdrückbare Ahnung des Ichs, wie sie der Sufi-Mystiker Rumi (1207–1273) poetisch beschreibt:

»Woher kam ich, und was erwartet man von mir?
Ich habe keine Ahnung.
Meine Seele stammt von woandersher, dessen bin ich sicher,
und dort zu enden ist mein Ziel.
Dies Betrunkensein begann in einer anderen Schenke.
Sobald ich wieder zu jenem Ort zurückgelange,
werde ich völlig nüchtern sein.
In der Zwischenzeit bin ich wie ein Vogel aus einem anderen Erdteil,
sitze in diesem Vogelkäfig.
Der Tag kommt näher, an dem ich davonfliege –
doch wer ist das eben jetzt in meinem Ohr,
der meine Stimme hört?
Wer sagt Worte mit meinem Mund?
Wer blickt umher mit meinen Augen?
Was ist die Seele?
Ich kann nicht aufhören zu fragen.
Wer immer mich hierhergebracht hat,
wird mich zurückversetzen müssen.«

C.G. Jung bezeichnet die Seele als »das lebendige Ding, das wir deutlich oder undeutlich als Grund für unser Bewusstsein verspüren oder als die Atmosphäre unseres Bewusstseins«. Diese Unterscheidung hilft, die starke Gebundenheit an das Ich zu lockern, das im Käfig der manifesten Welt sitzt.

Mehr zur Mystik des Christentums gibt es im vollständigen Artikel. Jetzt nach unten scrollen und den Artikel bestellen!

Verzerrungen bei der Seelenarbeit

Problematisch ist es, wenn bei dieser anstrengenden Seelenarbeit das Integrieren und Transformieren nicht ausgewogen gelingt. Die Seele steckt dann in Anti-Haltungen fest und bekämpft ihren nach außen projizierten Schatten. Sie kann auch allergisch auf die ganze manifeste Welt reagieren. Dann verteufelt sie das Ich auf übertriebene Weise, während sie gleichzeitig alles Seelische und Spirituelle überhöht. Das erzeugt entweder Schuldgefühle, wenn man merkt, dass man nicht genug »von der Welt lassen« kann, oder Entfremdung von allen, die keinen spirituellen Weg gehen wollen. Damit wird der Übergang ins subtile Seelenreich verzerrt und der Ich-Bereich des »äußeren Menschen« nicht angemessen gewürdigt und mitgenommen. Die Mystikerin Mechthild von Hackeborn (1241–1298) gab für diese heikle Phase seelischer Entwicklung folgenden Rat:

»Wenn jemand etwas Tadelnswertes am Gesicht seiner Seele findet, dann wische er es ab mit dem zarten Tuch der Menschheit Christi.«

Keinesfalls dürfe man dabei zu hart mit sich oder verbittert sein, sondern solle sich immer der göttlichen Güte bewusst sein, denn sonst »zerreißt man mehr, als dass es heilt«. Das richtige Maß für eine stimmige Selbstkorrektur ist die Menschenfreundlichkeit Jesu, über die die Seele ausführlich meditieren soll. So verbindet sich eine nüchtern-realistische Selbstwahrnehmung im Subtilen mit der Möglichkeit einer imitatio christi, dem Streben, Jesus immer mehr nachzuahmen.

Die Seele ist also keine feste Entität, sondern ein menschliches Transformationspotenzial, das dem Ich zur Selbstüberschreitung verhilft. Sie ist hybrid angelegt als relationales Integrationsorgan aus vielen Seelenbändern, die unsere individuellen Empfindungen mit dem Allumfassenden (Seinsgrund, Gottheit, Kosmos des Geistes, Nullpunktfeld …) verbinden. Die Seele fungiert als eine Art Verbindungsknoten oder als »Wärmestrom« (Joseph Beuys), der mitten in unserem Inneren Wechselwirkungen zwischen dem kosmisch-evolutionären Weltganzen und dem Ich-Konstrukt erzeugt. Das eigene Ich wird mithilfe der Seelensonde unwiderruflich an den absoluten Geist geknüpft und mit dessen Streben nach immer »höheren Ausgestaltungen des Guten, Wahren und Schönen« (Ken Wilber) infiziert.

Wie die nordfranzösische Begine und Mystikerin Marguerite Porete den Weg der Bewusstseinstransformation vom Ego zur Seele und zum wahren Selbst beschreibt, erfahren Sie im vollständigen Artikel. Unten den Artikel bestellen!

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ICH BIN

Die ultimative Ablösung von Ego, Seele und sogar dem inneren Zeugen führt letztlich zur »Istheit oder Einzigkeit Gottes« (Meister Eckhart):

Mit dem definitiven Ende der letzten Subjekt-Objekt-Trennung vollzieht sich eine unermessliche, schrankenlose Öffnung des Bewusstseins.

Ich nenne ein paar Beispiele aus der christlichen Mystik. Jan van Ruysbroec (1293–1381): »In meinem wesentlichen Sein bin ich von Natur aus Gott. Denn in Gott gibt es keine Unterscheidung. Mit diesem Gott bin ich eins und ich bin sogar, was er ist.« Gerlach Peters (1378–1411): »Aus seinem und aus meinem Schauen wird die Schau. In ihr und mit ihr schaue ich, doch nicht nach meiner Weise [Ego, Seele], ich schaue Gott so, wie Gott selbst sich schaut.« Meister Eckhart: »Das Auge, mit dem ich Gott schaue, es ist dasselbe, darin mich Gott sieht. Mein Auge und Gottes Auge, das ist ein Auge und ein Sehen und ein Erkennen und ein Lieben … Gott und ich, wir sind eins.« Juliana von Norwich (1342–1413) drückte es so aus:

»Sieh! Ich bin Gott! Ich bin in allen Dingen! Ich tue alle Dinge!«

Katharina von Genua (1447–1510): »Mein Ich ist Gott. Ich kenne kein Ich mehr als nur meinen Gott. Es geht nicht mehr um Vereinigung, denn ich sehe nicht, was vereint werden soll. Ich weiß nicht, wo mein Ich ist, ich suche es auch nicht. Gott ist Mensch geworden, um mich zu Gott zu machen, so will ich ganz sein Geist sein.« Das Gleiche bezeugt Ken Wilber: »Ich sehe die Welt, wie Gott, die Gottheit, der Geist sie sieht. Der ganze Kosmos entsteht im Auge des Geistes, … in meinem eigenen inneren Gewahren.«

Der absolute Geist erkennt sich mitten im menschlichen Bewusstsein in seiner Totalität. Die non-duale Einheitserfahrung von Gott und Mensch erfasst den Kern unserer Wesens-Essenz. Nun weiß man, dass Gott dieses einzige »ICH BIN« in mir ist. Das war die Erfahrung und das Evangelium Jesu:

»ICH BIN der Weg, die Wahrheit und das Leben! Ich und der Vater sind eins.« (Johannes 17,10)

Es gibt nur noch das »gottförmige« ICH BIN jenseits von Raum und Zeit, ohne Anfang und Ende, als das einzige Subjekt, das es je gab, gibt oder geben wird. Deshalb ist »ICH BIN DER ICH BIN« (Exodus 3,14) der verborgen offenbare Gottesname im Judentum und Christentum – klarer geht es nicht. Die jüdisch-christliche Philosophin Simone Weil meinte darum einmal, dass allein Gott das Recht habe, in mir ICH BIN zu sagen.

Dies sind Ausschnitte aus dem Artikel.

Erfahren Sie mehr über die Sicht des mystischen Christentums auf Ego und Seele.

Lesen Sie die vollständige Fassung in Tattva Viveka 86 oder downloaden Sie diesen Artikel einzeln als ePaper für 2,00 € als ePaper erhältlich (Pdf, 7 Seiten).

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Marion Küstenmacher
Vom kleinen Ich zum großen ICH BIN
Seele und Bewusstsein in der christlichen Mystik

Die evangelische Theologin und Autorin Marion Küstenmacher gibt einen Einblick in die non-duale Mystik des Christentums, dessen Vertreterinnen und Vertreter lange Zeit von der christlichen Obrigkeit verunglimpft und als Häretiker bestraft wurden. Dies hielt die Mystiker und Mystikerinnen jedoch nicht davon ab, sich der Erforschung der Seele und der Transformation ihres Bewusstseins zu verschreiben, um sich aus den Fängen des Egos und Egoismus zu befreien hin zur Schau Gottes und der non-dualen Erleuchtung.
 

 

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Über die Autorin

Marion Küstenmacher, evangelische Theologin und Germanistin, 2010 erhielt sie den Argula-von Grumbach-Preis für eine Arbeit zur Sophia-Weisheit. Autorin zahlreicher Bücher zu Persönlichkeitsbildung, integraler Spiritualität und Mystik. U. a. Gott 9.0, Der Purpurtaucher, Integrales Christentum und aktuell Mein fliegender Teppich des Geistes.

Bildnachweis: © Adobe Photostock

2 Kommentare
  • Thượng Hiền Nguyễn
    Gepostet am 13:07h, 28 April Antworten

    Well, you are someone who can read and write about yourself, including how to be an acting artist. Hope all mankind will see God himself in every beauty it has.

  • Isavasyam d
    Gepostet am 22:19h, 25 April Antworten

    Jeder denkt an sich, nur ich denk an mich. ?

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