08 Dez Was ist eigentlich Zeit?
Die Untersuchung eines rätselhaften Phänomens, Teil 2
Autor: Prof. Roland Böckle
Kategorie: Philosophie
Ausgabe Nr: 65
Zeit beschäftigt die Menschen, seit es Kultur gibt, und immer noch ist unklar, was Zeit eigentlich ist. Der Autor gibt ein Panorama der Aussagen und Erkenntnisse zur Zeit aus der gesamten Menschheitsgeschichte und zeigt, dass Zeit objektiv nicht fassbar ist. Vielmehr ist sie ein menschliches Empfinden, ein Konstrukt und eine Relation zwischen erfahrbaren Ereignissen. Lesen Sie im 2. Teil über die physikalische Zeit und die Zeit des Menschen.
Die physikalische Zeit
Heute setzen die meisten Philosophen und Physiker als selbstverständlich voraus, dass die Zeit in eine Richtung fließt und dass der Ablauf der Zeit nicht umkehrbar ist – obwohl Einsteins Relativitätstheorie ein geradliniges Fortschreiten der Zeit in Zweifel zieht. Newton behauptete: »Die absolute, wahre und mathematische Zeit fließt aufgrund ihrer eigenen Natur aus sich selbst heraus ohne Beziehung zu etwas äußerem gleichmäßig dahin« (Newton 1726: Philosophiae naturalis principia mathematica, Buch 11, Abschnitt 27, Abs. 14). Für Newton ist also die Zeit unabhängig von allen physikalischen Vorgängen. Sein Zeitgenosse Leibniz vertrat damals schon eine gegenteilige Auffassung: »Raum und Zeit sind nicht Sachen, sondern Anordnungen von Sachen.« Raum und Zeit sind nach Leibniz also an Materie gebunden und besitzen außerhalb dieser keine absolute Realität. Damit kommt Leibniz der Auffassung Einsteins nahe. »Die Zeit ist nach […] heutiger physikalischer Auffassung nicht ein unabhängiges Seiendes, sondern eine Ordnungsform der Materie« (Wild 1995, S. 163).
Für Kant ist die Zeit ein a priori der menschlichen Wahrnehmung »Die Vorstellung der Zeit entspringt nicht aus den Sinnen, sondern wird von ihnen vorausgesetzt« (1770, Dissertation Section III. 14).
»Schon Leibniz und Mach hatten gegen Newton auf den Gedanken des Aristoteles zurückgegriffen, dass der Ort eines Körpers nichts Absolutes, sondern eine Relation zu benachbarten Körpern sei, dass man also einen absoluten Raum (und entsprechend eine absolute Zeit) nicht zu postulieren brauche. […] Durch keine Messung von Kraftwirkungen zwischen Körpern [ist es] möglich festzustellen, welcher von ihnen ruht, welcher gleichförmig bewegt ist; nur die relative Geschwindigkeit ist festzustellen.«
– Weizsäcker 1984, S. 127.
Erst »Einstein machte deutlich, dass die Newtonsche Auffassung der Zeit als eines einheitlichen und einförmigen Kontinuums über das ganze physikalische Universum hin nicht zu halten ist« (Elias 1984, S. 4). »Einstein hat Newtons […] mechanistische Auffassung von Raum, Zeit und Gravitation durch eine dynamische […] Beschreibung ersetzt, die eine Krümmung der Raumzeit berücksichtigt. Auf diese Weise hat er die Gravitation mit der Grundstruktur der Raumzeit verwoben« (Greene 2000, S. 97). Die Relativitätstheorie spricht von der Eigenzeit jedes Bezugssystems. »Die Annahme einer universalen Zeit erweist sich als Illusion« (Mainzer, 20055, S. 121). Zeit ist eine Beziehungsform: Abläufe von Geschehen werden zueinander in Beziehung gesetzt. Jede Veränderung im »Raum«, ist eine Veränderung der »Zeit«, jede Veränderung in der »Zeit« ist eine Veränderung im »Raum« (Elias 1984, S. 74 f.). »Eine einzige Zeit gibt es in der Relativitätstheorie nicht. Nach ihr hat jedes Individuum sein eigenes Zeitmaß, das davon abhängt, wo es sich befindet und wie es sich bewegt« (Hawking 1988, S. 51). »Einsteins Theorie der physikalischen Welt zeigte, dass es in der Welt nichts gibt, dem unsere Vorstellung vom Verstreichen der Zeit entsprechen könnte« (Fraser 1992, S. 261). Viele »Unbegreiflichkeiten und Absonderlichkeiten, die sich im Rahmen unserer konventionellen Naturbeschreibung ergeben, [sind] unter Umständen nur darauf zurückzuführen […], dass wir ein unangemessenes Zeitmaß bei solch einer Berechnung verwenden. Wir werden uns vielleicht immer stärker dessen bewusst werden müssen, dass es kaum Sinn machen kann, von einem absoluten Zeitmaß für alle Vorgänge in der Welt ausgehen zu wollen und dieses dann per Dekret zum Maßstab aller Dinge und Dinggeschehnisse machen zu wollen« (Fahr 1995, S. 203).
Penrose und Hawking konnten beweisen, dass die Zeit nach dem mathematischen Modell der allgemeinen Relativitätstheorie im sogenannten Urknall einen Anfang gehabt haben muss (siehe Hawking 2001, S. 49; 1993, S. 61). Wenn die Zeit mit dem Urknall begann, ist sie dann auf die Existenz des Universums beschränkt?
»Heute nennen wir den Urknall und den Gravitationskollaps [in einem Schwarzen Loch] die zwei Tore der Zeit. Das erste Tor bedeutet, dass es eine Zeit gibt, vor der keinerlei Vorher existiert. Das zweite Tor bedeutet, dass es eine Zeit gibt, nach der es kein Nachher gibt« (Wheeler 1989, S. 17).
»Die allgemeine Relativitätstheorie verbindet die Zeitdimension mit den drei Dimensionen des Raumes zur sogenannten Raumzeit und bezieht die Gravitation in diese Beschreibung mit ein, indem sie erklärt, die Verteilung von Materie und Energie im Universum krümme und verzerre die Raumzeit, so dass sie nicht flach ist« (Hawking 2001, S.42 f.). »Auch mit den modernsten technischen Mitteln sind bis auf den heutigen Tag keine Abweichungen von den Vorhersagen der allgemeinen Relativitätstheorie entdeckt worden« (Greene 2000, S. 106).
Die Schöpfung ist nicht abgeschlossen. Die Welt ereignet sich in jedem Augenblick neu.
Newtons Auffassung von einer geradlinig gleichmäßig fortschreitenden Zeit ist nur für Geschwindigkeitsbereiche gültig, die deutlich langsamer als die Lichtgeschwindigkeit sind. Damit geht die Existenz einer universalen Zeit verloren; Raum und Zeit sind keine voneinander unabhängigen Größen. Die Quantentheorie überschreitet unsere Vorstellungskraft mit der Annahme von zahlreichen parallelen zeitlichen Entwicklungen, die prinzipiell nicht beobachtbar sind. (Mainzer 2005, S. 61). Hawking geht noch einen Schritt weiter. Er nimmt eine imaginäre Zeit an: »Die drei Raumrichtungen und die imaginäre Zeit würden eine Raumzeit bilden, die ohne Grenzen und Ränder in sich geschlossen wäre« (Hawking 1993, S. 78). Hawking betont jedoch, dass die imaginäre Zeit lediglich ein mathematischer Trick sei, der seinen Berechnungen dienlich ist. (S. 78 f.) Denn die Erörterung der Prinzipien lassen sich am besten in der Sprache der Mathematik führen. In der Sprache der Mathematik hat aber die Zeit keine Richtung; es gibt also keinen Zeitpfeil. »Bewegungen vorwärts in der Zeit und rückwärts in der Zeit sind gleichermaßen möglich. Ohne die Richtung in der Zeit einzuführen kann man jedoch keine Entwicklungsprozesse in nichttrivialer Weise beschreiben« (Lüscher 1989, S. 366).
Newtons Auffassung von einer geradlinig gleichmäßig fortschreitenden Zeit ist nur für Geschwindigkeitsbereiche gültig, die deutlich langsamer als die Lichtgeschwindigkeit sind. Damit geht die Existenz einer universalen Zeit verloren; Raum und Zeit sind keine voneinander unabhängigen Größen. Die Quantentheorie überschreitet unsere Vorstellungskraft mit der Annahme von zahlreichen parallelen zeitlichen Entwicklungen, die prinzipiell nicht beobachtbar sind. (Mainzer, 20055, S. 61). Hawking geht noch einen Schritt weiter. Er nimmt eine imaginäre Zeit an: »Die drei Raumrichtungen und die imaginäre Zeit würden eine Raumzeit bilden, die ohne Grenzen und Ränder in sich geschlossen wäre« (Hawking 1993, S. 78). Hawking betont jedoch, dass die imaginäre Zeit lediglich ein mathematischer Trick sei, der seinen Berechnungen dienlich ist. (S. 78 f.) Denn die Erörterung der Prinzipien lassen sich am besten in der Sprache der Mathematik führen. In der Sprache der Mathematik hat aber die Zeit keine Richtung; es gibt also keinen Zeitpfeil. »Bewegungen vorwärts in der Zeit und rückwärts in der Zeit sind gleichermaßen möglich. Ohne die Richtung in der Zeit einzuführen kann man jedoch keine Entwicklungsprozesse in nichttrivialer Weise beschreiben« (Lüscher 1989, S. 366).
Es steht fest, dass sich das Universum allmählich abkühlt, dass es also in einen Zustand immer größerer Entropie übergeht. Somit verläuft die Zeit im Universum von der Vergangenheit in die Gegenwart und in die Zukunft. Das hat Konsequenzen. »Die Wirklichkeit offenbart sich uns in einer merkwürdigen Schichtung, die durch Vergangenheit und Zukunft, mit der Gegenwart als Grenzfläche, gekennzeichnet ist. Hierbei ist nur die jeweilige Gegenwart unserer unmittelbaren Erfahrung zugänglich, die Vergangenheit lebt nur indirekt als ›vergangene‹ Gegenwarten in unserer Erinnerung oder in Form von Dokumenten weiter, während die Zukunft als etwas erscheint, das uns zunächst verborgen ist, sich uns aber im Laufe der Zeit erschließt in einer Form, die wir – wie wir als selbstbewusste Menschen glauben – absichtsvoll gestalten können« (Dürr 1995, S. 181). »Relativitätstheorie und Quantentheorie haben beide unsere Vorstellungen von der Welt wesentlich verändert. Aber die Vorstellungen, welche die Quantentheorie erzwungen hat, greifen viel tiefer. Sie sind im echten Sinne revolutionär und haben selbst einen Einstein abgeschreckt« (ders. 1995, S. 190). »Aus quantenmechanischer Sicht gibt es […] keine zeitlich durchgängig existierende, objektivierbare Welt. […] Die Naturgesetze haben vielmehr statistischeren Charakter. Eine noch so genaue Beobachtung aller Fakten in der Gegenwart reicht deshalb prinzipiell nicht aus, um das zukünftige Geschehen eindeutig vorherzusagen. Das zukünftige Geschehen ist also nicht mehr determiniert, nicht mehr eindeutig festgelegt, sondern es bleibt in gewisser Weise offen«. […] Die Schöpfung ist nicht abgeschlossen. Die Welt ereignet sich gewissermaßen in jedem Augenblick neu« (ders. 1995, S. 193). »Die Natur verdammt uns zu keiner bestimmten Zukunft. Die Welt ereignet sich in jedem Augenblick neu, sie befindet sich in stetiger Entfaltung, besser: in einem kontinuierlichen Schöpfungsprozess, und – so ist wohl anzunehmen – sie eröffnet auch damit uns Menschen die Chance, an diesem Schöpfungsprozess mitzuwirken. Und nicht nur das: aufgrund unserer Gedanken, unserer Erwartungen und Träume, unseres Willens besitzen wir prinzipiell die Fähigkeit, durch unsere Handlungen diese Zukunft in ihrer konkreten Ausformung mitzugestalten« (ders. 1995, S. 199). »Es wird uns heute zunehmend bewusst, daß die Menschheit auf ihrem bisherigen Pfad nicht fortschreiten darf, will sie ihre Existenz nicht ernsthaft gefährden. […] Wenn die Zerstörung unseres Planeten letztlich durch das Bewusstsein des Menschen und sein darauf gründendes Handeln möglich ist, dann auch seine Rettung« (ders. 1995, S. 201). Was für eine Konsequenz, die Dürr hier sieht!!
»Die Physik steht heute an einer Schwelle. Sie erschließt uns eine Welt voller neuer Fragen.« Prigogine/Stengers 1993, S.39). »Nach meiner Meinung ist unser gegenwärtiges Bild der physikalischen Realität, speziell im Hinblick auf das Wesen der Zeit, für eine große Verwirrung verantwortlich, die vielleicht noch größer ist als jene, für die die heutige Relativitätstheorie und Quantenmechanik gesorgt hatten« (Penrose 1990, S. 4). […]
Lesen Sie den kompletten Artikel in der TATTVA VIVEKA 65 >>
Artikel zum Thema in früheren Ausgaben:
TV 05: Prof. Waltraud Wagner – Zeit, das fortschreitende oder die Ordnung.
Lineare und zyklische Zeitrechnungen
TV 22: Dr. Ulrich Warnke – Was ist Leben? Diesseits und Jenseits der Raum-Zeit-Netze
TV 23: Bruno Martin – Die Pforten der Wahrnehmung. Kunst als Weg der Verwirklichung
TV 33: Dr. Stephan Krall – Zeit und Evolution. SMN-Jahrestreffen der deutschen Gruppe
TV 34: Robert Gansler – Zeit als physikalisches und thermodynamisches Phänomen
TV 43: Ulrich Kramer – Zeit, psychologisch betrachtet
TV 44: Prof Dr. Peter Hubral – Das Dao des Sokrates. Erkenntnis durch Nicht-Tun
TV 45: Mike Hauschke – Sein und Werden. Bericht vom Retreat mit Andrew Cohen
TV 62: Uschi Bauer – Freiheit, Gleichwertigkeit, Grundeinkommen. Jetzt? Eine ungewöhnliche Idee
TV 63: Dr. Marc Wittmann – Stress, Muße, Flow und Zeitlosigkeit. Das subjektive Erleben der Zeit
TV 64: Prof. Roland Böckle – Was ist eigentlich Zeit? Teil 1
Bildnachweis: © Thies Thiessen, Fotolia_Avanne Troar
lothar depping
Gepostet am 16:18h, 30 DezemberDas neinja in der 66- bewusstsein und 125 mio jahre inexternsteynetattwa