Vom Mythos des Normalen

Vom Mythos des Normalen

Autor: Dr. Gabor Maté
Kategorie: Psychologie
Ausgabe Nr: 97

Der renommierte kanadische Arzt und Suchtexperte Gabor Maté geht in seinem Buch »Vom Mythos des Normalen« den Ursachen von Krankheit und Trauma in unserer Gesellschaft detailliert nach. Wir erfahren von einer anderen Sicht als der, die uns durch die zeitgenössische Medizin, Medien und Gesellschaft vermittelt wird. Gleichzeitig zeigt er Wege auf, um mit sich Frieden zu schließen und den Weg der Heilung anzutreten.

In diesem Buch, Vom Mythos des Normalen, geht es um etwas viel Umfassenderes. Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass hinter der gesamten Epidemie chronischer physischer und psychischer Krankheiten, die uns momentan plagt, etwas in unserer Kultur selbst nicht stimmt. Es trägt nicht nur zu den vielen Krankheiten bei, unter denen wir leiden, sondern auch, und das ist entscheidend, zu ideologisch blinden Flecken. Sie halten uns davon ab, unsere missliche Lage klar zu erkennen und, besser noch, etwas dagegen zu unternehmen. Diese blinden Flecken sind in unserer gesamten Kultur weit verbreitet, aber in einem tragisch hohen Maße in meiner eigenen Berufssparte zu finden. Sie sind dafür verantwortlich, dass wir keine Ahnung haben, wie unsere Gesundheit und unser soziales und emotionales Leben zusammenhängen.

Anders ausgedrückt: Chronische Krankheiten – ob psychischer oder physischer Natur – sind in hohem Maße ein Resultat oder ein Merkmal der bestehenden Umstände und keine Störung. Sie sind eine Folge unserer Lebensweise, kein mysteriöser Irrweg.

Spricht man von einer »toxischen Kultur«, kann sich das auf viele Dinge beziehen, zum Beispiel auf Umweltschadstoffe, die seit Beginn des Industriezeitalters so allgegenwärtig und der menschlichen Gesundheit so abträglich sind. Von Asbestpartikeln bis hin zu enormen Mengen schädigendem Kohlendioxid: An realen, physischen Giftstoffen in unserer direkten Umgebung mangelt es wirklich nicht. Wir könnten »toxisch« auch in seinem modernen und populär-psychologischen Sinn verstehen, wie es in der Verbreitung von Negativität, Misstrauen, Feindseligkeit und Polarisierung deutlich wird, die für die soziopolitische Gegenwart typisch sind. Wir können diese beiden Bedeutungen natürlich in unsere Diskussion einbeziehen, aber ich verwende den Begriff »toxische Kultur«, um etwas noch Umfassenderes und tiefer Verwurzeltes zu beschreiben: den gesamten Kontext aus sozialen Strukturen, Glaubenssystemen, Vermutungen und Werten, der uns umgibt und zwangsläufig jeden Aspekt unseres Lebens durchzieht.

Die Tatsache, dass sich unser soziales Leben auf unsere Gesundheit auswirkt, ist nicht neu, aber dieser Erkenntnis auch Beachtung zu schenken, war nie dringlicher erforderlich. Ich sehe darin das wichtigste und folgenreichste Gesundheitsrisiko unserer Zeit, das durch die Auswirkungen von zunehmendem Stress, Ungleichheit und die Klimakatastrophe, um nur einige Hauptfaktoren zu nennen, gefördert wird. Unser Konzept von Wohlbefinden muss sich vom Individuellen zum Globalen – in jedem Sinne dieses Wortes – wandeln. Das trifft vor allem in unserem Zeitalter des globalisierten Kapitalismus zu, der, um es mit den Worten des Historikers und Kulturkritikers Morris Berman auszudrücken, »zur totalen kommerziellen Umgebung geworden ist, die eine gesamte mentale Welt umfasst.« Angesichts der Einheit von Körper und Geist, die in diesem Buch besonders hervorgehoben werden soll, würde ich hinzufügen, dass er auch eine totale physiologische Umgebung ausmacht.

Meiner Meinung nach erzeugt unsere soziale und wirtschaftliche Kultur ihrem Wesen nach chronische Stressfaktoren.

Sie untergraben das Wohlbefinden auf sehr ernsthafte Weise so zunehmend, wie wir es in den letzten Jahrzehnten beobachten konnten.

Wir sollten viele Krankheiten nicht als grausame Wendungen des Schicksals oder boshafte Mysterien sehen, sondern eher als eine erwartete und deshalb normale Konsequenz anormaler, unnatürlicher Umstände. Das würde sich auf revolutionäre Weise auf unseren Umgang mit unserer Gesundheit auswirken. Die kranken Körper und Seelen würden nicht länger als Ausdruck eines individuellen Krankheitsbildes angesehen, sondern als lebendes Alarmsignal.

Gabor Maté - Vom Mythos des Normalen

Sie würden unsere Aufmerksamkeit dorthin lenken, wo unsere Gesellschaft aus dem Ruder gelaufen ist. Dorthin, wo unsere derzeit herrschenden Gewissheiten und Vermutungen rund um die Gesundheit in Wirklichkeit Fiktion sind. Würde man sie klar erkennen, würden sie uns vielleicht auch Hinweise darauf geben, was getan werden müsste, um die Richtung zu ändern und eine gesündere Welt zu schaffen.

Dem heutigen medizinischen Modell liegt eine scheinbar wissenschaftliche Überzeugung zugrunde, die in gewisser Weise mehr einer Ideologie als empirischem Wissen ähnelt.

Daher unterläuft ihr ein doppelter Fehler: Es reduziert komplizierte Ereignisse auf ihre Biologie und trennt den Körper vom Geist. Es befasst sich fast ausschließlich mit dem einen oder dem anderen und bringt kein Verständnis für die grundlegende Einheit der beiden auf. Dieses Versäumnis erklärt weder die unbestritten fantastischen Errungenschaften der Medizin für nichtig noch die guten Absichten so vieler Menschen, die sie praktizieren. Aber es schränkt die guten Dinge, die die Medizin bewirken könnte, stark ein.

Dies ist nur der Anfang des Artikels.

Welche neuen Wege die Medizin gemäß Dr. Gabor Maté beschreiten sollte, um den Menschen bei der Bewältigung und Heilung von Krankheiten zu unterstützen, erfährst du im vollständigen Artikel, der in Tattva Viveka 97 erschienen ist.

Tattva Viveka 97

Tattva Viveka Nr. 97

Inhalt der Ausgabe

Schwerpunkt: Trauma und Heilung
Erschienen: Dezember 2023

Gabor Maté – Vom Mythos des Normalen • Thomas Hübl – Trauma reduziert unsere Beziehungsfähigkeit. Adäquate Beziehung als Mittel zur Heilung von individuellem und kollektivem Trauma • Lea Loeschmann – Körperloses Bewusstsein kann nicht sterben. Von der Rückgewinnung des Urvertrauens ins Leben • Ronald Engert – Trauma und Heilung. Wie man an der Ursache ansetzt und nachhaltig heilt • Gabriella Rist – Wie Traumaheilung durch Neurophilosophie und Körperpsychotherapie gelingen kann. Die Suche nach dem wahren Selbst • Saskia John – »Erste-Hilfe-Koffer« bei Angst und Panik. Fünf wirksame Tipps zur Sofortmaßnahme • Prof. Dr. Niko Kohls – Die gesellschaftliche Akzeptanz von Achtsamkeit und Spiritualität. Ein Abbild des Bewusstseinsstandes der gegenwärtigen Gesellschaft Teil 2 • Sarah Rubal – Die Heimkehr der Göttin. Unsere mythische Heldinnenreise (Teil 1) • Christiane Krieg – Dein spiritueller Wegweiser durch die Raunächte. Öffne dich für deine Herzensvision • Martin Auffarth – Atem der Welt. Das Vaterunser in der aramäischen Muttersprache von Jesus • u.v.m.

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Zum Autor

Unser Autor Dr. Gabor Maté

Dr. Gabor Maté ist ein international renommierter Arzt aus Kanada, Autor und Experte für die Themen Sucht, Stress und kindliche Entwicklung. Seine Bücher sind alle samt Bestseller und in über 25 Sprachen übersetzt. Gabor Maté ist weltweit vernetzt und als gefragter Redner tätig. Seine Arbeit und sein Lebenswerk wurden in der preisgekrönten Dokumentation »The Wisdom of Trauma – Der weise Schmerz der Seele« filmisch festgehalten.

Webseite: drgabormate.com

Gabor Maté - Vom Mythos des Normalen

Wir bedanken uns ganz herzlich beim Kösel Verlag für die freundliche Bereitstellung der Buchauszüge. Aus dem Buch von Gabor Maté:

Vom Mythos des Normalen.
Wie unsere Gesellschaft uns krank macht und traumatisiert – Neue Wege zur Heilung
Hardcover, 624 S., Kösel-Verlag 2023
ISBN 978-3-466-34798-8

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