Der Elefant und die Blinden

Der Elefant und die Blinden

Eine Monumentalstudie zum Bewusstsein

Gerade ist das neue Buch von Thomas Metzinger (Der Elefant und die Blinden) erschienen. Damit legt er ein Opus Magnum von 950 Seiten vor, dass nach eigenen Angaben auch sein letztes Buch sein soll. Es könnte als Grundlage für eine neue Forschung zum Bewusstsein dienen, indem es den phänomenologischen Rahmen für alle Aspekte einer meditativen Erfahrung des Bewusstseins ausarbeitet. Dieser Beitrag ist eine erste Buchbesprechung als Anregung anlässlich des Erscheinens des Buches. Desweiteren gibt es hier das Video-Interview, das Ronald Engert mit Thomas Metzinger geführt hat.

> DIREKT RUNTER ZUM VIDEO-INTERVIEW

Thomas Metzinger: Der Elefant und die Blinden

Metzinger möchte in seiner Untersuchung phänomenologisch vorgehen, das bedeutet, er hat keinen metaphysischen Überbau oder eine bestimmtes philosophisches System zur Erklärung dessen, was Meditierende beim Meditieren erleben, sondern es geht um eine reine Beschreibung der Erfahrung.
Das Buch ›Der Elefant und die Blinden‹ enthält somit sehr viele schriftliche Zeugnisse der Meditationspraxis, die durch die Befragung von über 500 Menschen mit teilweise langjähriger Meditationspraxis in über 50 Ländern erhoben wurden. Darüber hinaus erläutert Metzinger diese Erfahrungsberichte und ordnet sie in die Philosophie, die Neurowissenschaften und die komputationale Wissenschaft ein.

Metzingers Ziel ist die Isolierung einer »minimalen phänomenalen Erfahrung« (MPE), die er dann als das identifiziert, was von Meditatierenden der buddhistischen Tradition oft »reines Gewahrsein« genannt wird:

»Reines Gewahrsein könnte sich als die »Konvergenzzone« erweisen, in der eine radikalere und intellektuell ehrlichere Form der spirituellen Praxis, die kognitiven Neurowissenschaften sowie die moderne Philosophie des Geistes schließlich zusammenkommen. Will die Philosophie (und Wissenschaft) des Bewusstseins echte Fortschritte erzielen, muss sie endlich jene Formen des Bewusstseins ernst nehmen, denen sie lange Zeit am skeptischsten gegenüberstand: die selbstlosen Erfahrungen des »reinen Bewusstseins«, wie sie unter anderem in der Meditation auftreten.
Die Bewusstheit selbst kann nicht nur aus der Erste-Person-Perspektive erfahren werden, sondern auch aus einer Perspektive, die in diesem Buch als »Keine-Person-Perspektive« (engl. zero-person perspective) bezeichnet wird. Diese besondere Zugangsform wird unter anderem durch die besten Formen spiritueller Praxis erzeugt. Wie sich herausstellen wird, ist das Bewusstsein selbst auf seiner tiefsten Ebene kein subjektives Phänomen in einem philosophisch interessanten Sinne. Stattdessen erkennt es sich offenbar selbst, jedoch »nicht-egoisch«. So paradox es klingen mag: Es existieren tatsächlich selbstlose Formen des Selbstbewusstseins.« (Metzinger, Der Elefant und die Blinden, S. 19)

Diese Entdeckung, dass es jenseits der Egostruktur eine Wahrnehmung von Bewusstheit gibt, sieht er als eines der wichtigsten Ergebnisse seiner Forschung. Er unterscheidet dann auch in Kapitel 30 zwischen normaler MPE und reflexiver MPE. »Reflexive MPE« bedeutet, es gibt eine Art Gewahrsein, dass sich selbst wahrnimmt, ohne egoisch zu sein. Insgesamt formuliert er seine Arbeitshypothese folgendermaßen:

»Zu meiner Arbeitshypothese gehört, dass Bewusstsein nicht nur in Abwesenheit von Gedanken und Sinneswahrnehmungen existieren kann, sondern sogar ohne Zeiterfahrung, ohne Selbstverortung in einem räumlichen Bezugssystem und ohne jede Form von körperlichem oder egoischem Selbstbewusstsein.« (16)

Das ist ein interessanter Ansatz, bedeutet es doch, dass wir als Erkenntnisquellen nicht nur die Sinneswahrnehmung und die logisch-rationale Denkleistung haben, sondern noch eine dritte Form, die nicht auf Sinneswahrnehmung, nicht auf begrifflichem Denken und nicht auf einer subjektiven Perspektive beruht. Man hätte hier somit ein objektives Erkennen, dass alle Begrenztheiten einer egoischen Perspektive übersteigt, beziehungsweise – spirituell formuliert – transzendiert. Damit überschreitet Metzinger den Raum der empirischen Evidenz und der Wissenschaft. Gleichzeitig bezeichnet er sich als

»ein(en) Philosoph des Geistes und der Kognitionswissenschaften, der interdisziplinär arbeitet und einen undogmatischen naturalistischen Ansatz verfolgt.« (18)

Sein Versuch ist es unter anderem, die verschiedenen epistemischen Zugänge zur Wirklichkeit zu integrieren. Tatsächlich sieht er darin eine unverzichtbare Zusammengehörigkeit, wenn man die Absicht hat, zu echten Erkenntnissen voranzuschreiten, die die Bedingungen der von ihm betonten intellektuellen Redlichkeit erfüllen. Kein Widerspruch zwischen Wissenschaft und Spiritualität ist hier also die Grundannahme, sondern im Gegenteil, ein nicht trennbarer Zusammenhang. Dies hat er früher schon in seinen drei Thesen ausgeführt:

[1] Das Gegenteil von Religion ist nicht Wissenschaft, sondern Spiritualität.
[2] Das ethische Prinzip der intellektuellen Redlichkeit kann man als einen Sonderfall der spirituellen Einstellung beschreiben.
[3] Die wissenschaftliche und die spirituelle Einstellung entstehen in ihren Reinformen aus derselben normativen Grundidee.

Die genauen Ausführungen dazu gibt es in seinem Beitrag in Tattva Viveka 69: Spiritualität und intellektuelle Redlichkeit

Video-Interview mit Thomas Metzinger zu dem neuen Buch

Fazit

 

Metzinger macht deutlich, dass die Erforschung des Bewusstseins noch am Anfang steht und bis jetzt noch keine Erkenntnisse darüber vorliegen, was Bewusstsein wirklich ist:

»Fast drei Jahrzehnte nach der Gründung der Association for the Scientific Study of Consciousness im Jahre 1994 wissen wir noch nicht einmal, was genau es eigentlich ist, das hier erklärt werden muss.« (17)

Das Buch ist 950 Seiten stark und entsprechend lange dauert es, es zu lesen. Besonders interessante Kapitel sind Kapitel 9,17 und 30, in denen es um sehr fundamentale erkenntnistheoretische Fragen geht. Diese sind möglicherweise nicht für alle Menschen gleichermaßen interessant, aber es handelt sich hier um sehr wichtige Grundlagenforschung.
Ich persönlich kann nicht mit allen seinen Positionen übereinstimmen. Seine intellektuelle Redlichkeit erlaubt ihm keine metaphysischen Annahmen. Eine metaphysische Annahme ist zum Beispiel: ›Ich bin ewiger Geist.‹ Oder: ›Wir sind alle eins mit Gott.‹ Es gibt viele derartige metaphysische Setzungen. Das Problem ist, dass sie die Wirklichkeit festlegen, ohne dass man in irgendeiner Weise beweisen könnte, dass es so stimmt. Es sind einfach Glaubenssätze, die laut Metzinger dazu dienen, die Menschen zu beruhigen und sie von der Tatsache ihrer Sterblichkeit abzulenken.
Diese Entsagung metaphysischer Axioma lässt ihm letztlich nur die Möglichkeit, sich auf den empirischen Tatsachenbestand zu stützen, und so kommt er zu dem Ergebnis, dass wir Menschen materielle Bio-Computer sind, deren Hauptziel das Überleben ist. Ob das aus der Sicht höhere Bewusstseinsinhalte und auch Bewusstseinszustände wirklich das letzte Wort ist, sei dahingestellt. Beweisen können wir bis dato weder das eine noch das andere.

 

Hier noch einige Zitate zur geistigen Anregung und Vorbereitung auf die Lektüre:

 

»Die betreffende Erfahrungsqualität ist jedoch völlig nicht-egoisch, sie hat nichts Selektives oder aktiv Handelndes an sich. Das heißt: Sie ist mühelos, stellt keine Reaktion auf irgendetwas dar und ist nicht zielgerichtet. Dementsprechend beinhaltet sie auch kein bewusst erlebtes Gefühl der Kontrolle. Niemand besitzt sie. Es gibt kein Gefühl von Meinigkeit. Die phänomenale Signatur der Selbsterkenntnis besitzt auch keine autobiografische Komponente, sie erscheint als zeitlos und spontan präsent (es gibt keinerlei »inneres Narrativ«), darum beinhaltet sie auch keine Form von Selbstrepräsentation auf der personalen Ebene – sie hat nichts mit Persönlichkeitsmerkmalen zu tun oder mit selbstbewusstem kognitivem Handeln, einschließlich selbstbezüglicher Gedanken oder Emotionen. Sie ist holistisch, es fehlt ihr an interner Struktur. Und wenn wir die fragliche Phänomenologie wirklich ernst nehmen, dann erscheint das Wort »Meta« plötzlich als ein unpassender Begriff, als etwas Künstliches, das leichtfertig aus einer externen Perspektive der dritten Person importiert wird. Bei dieser zweiten Art von nicht-begrifflichem Meta-Gewahrsein gibt es einen starken phänomenologischen Sinn, in dem es nichts mit Ihnen zu tun hat.
Am wichtigsten ist vielleicht, dass sich diese phänomenologische Variante wie die non-duale Version eines Meta-Wissens, wie eine besonders intime Form des Mit-sich-selbst-in-Kontakt-Seins anfühlt: Ja, das Bewusstsein ist sich seiner selbst bewusst, doch das phänomenologische Profil beinhaltet weder Subjekt noch Objekt. Duale Achtsamkeit ist ein subjektiver Erfahrungszustand (wie im ersten Beispiel oben); ein sich seiner selbst bewusstes Bewusstsein ist es dagegen nicht. Dennoch handelt es sich bei beiden eindeutig um phänomenale Zustände. Das meine ich, wenn ich in diesem Buch sage, dass der MinimalmodellAnsatz das Problem der Subjektivität für die Bewusstseinsforschung auflöst: Einige Minimalformen des bewussten Erlebens sind – in diesem phänomenologischen Sinne – keine Formen von subjektiver Erfahrung.« (Metzinger, 725f.)

»Das Material zeigt jedoch deutlich, dass es eine reflexive und trotzdem non-duale Variante der MPE gibt. Phänomenologisch lässt sie sich deshalb vielleicht am besten als eine nicht-egoische Signatur der Selbsterkenntnis beschreiben.« (728)

»Unseren Erfahrungsberichten zufolge handelt es sich bei der selbstlosen Selbstwahrnehmung des reinen, sich selbst erkennenden Bewusstseins um einen luziden und außergewöhnlich klaren Bewusstseinszustand.« (735)

»Ein erstes Zwischenergebnis unserer Untersuchung lautet also, dass es ein nicht-egoisches Selbstbewusstsein gibt; ein zweites, dass dieses auch als nicht-egoische Einheit der Identifikation fungieren kann.« (738)

»Ich möchte nun das neue begriffliche Instrument der »narrativen Selbsttäuschung« näher erläutern, indem ich es zunächst dem gegenüberstelle, was es nicht ist. Es ist nicht nur notorisch unklar, was wir mit Begriffen wie »Sinnstiftung« oder »Bedeutungshaftigkeit« eigentlich meinen. Eine zweite, ebenso vage und etwas oberflächliche Ansammlung von philosophischen Ideen dreht sich um Begriffe wie »das narrative Selbst«, »die Ausbildung einer narrativen Identität« und dergleichen. Natürlich zeigt ein Großteil der aktuellen Forschung, dass es schlicht und einfach kein Selbst gibt, welches der aktive Autor oder Erzähler einer inneren Lebensgeschichte sein könnte. Der entscheidende Punkt ist, dass der betreffende Vorgang völlig selbstlos abläuft, aber scheinbar eine Entität schafft, die die Kontrolle innehat und über die Zeit hinweg dieselbe bleibt. Es gibt kein narratives Selbst, sondern nur einen subpersonalen Prozess, der eine fiktive Einheit der Identifikation erzeugt.« (348)

Angaben zum Buch

Thomas Metzinger: Der Elefant und die Blinden

Thomas Metzinger: Der Elefant und die Blinden
Auf dem Weg zu einer Kultur der Bewusstheit
Berlin Verlag 2023, geb., 950 Seiten, 48,00 € (D), 49,40 € (A


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Zum Autor

Autor und Chefredaktuer der Tattva Viveka Ronald Engert

Ronald Engert, geb. 1961. 1982–88 Studium der Germanistik, Romanistik und Philosophie, 1994–96 Indologie und Religionswissenschaften an der Johann Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt/M. 1994 Mitgründung der Zeitschrift Tattva Viveka, seit 1996 Herausgeber und Chefredakteur. 2015–22 Studium der Kulturwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin. 2022 Masterarbeit zum Thema »Mystik der Sprache«. Autor von »Gut, dass es mich gibt. Tagebuch einer Genesung« und »Der absolute Ort. Philosophie des Subjekts«.

Blog: www.ronaldengert.com

Weitere Artikel von Thomas Metzinger

TV69: Spiritualität und intellektuelle Redlichkeit. Entwurf einer säkularen Spiritualität
https://www.tattva.de/spiritualitaet-und-intellektuelle-redlichkeit/

TV42: Der Ego-Tunnel. Wahrnehmung und Wirklichkeit
https://www.tattva.de/tattva-viveka-42/

Buchbesprechung von Metzingers Buch »Bewusstseinskultur. Spiritualität, intellektuelle Redlichkeit und die planetare Krise« (Berlin Verlag 2023)
https://www.tattva.de/buchbesprechungen-maerz-2023/

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