10 Okt Das Leben der Göttin im Alten Europa
Gedenken an Marija Gimbutas zu ihrem hundertjährigen Jubiläum 2021
Autor: Joan Marler
Kategorie: Kunst / Musik / Literatur
Ausgabe Nr: 88
Viele Menschen fragen sich, ob es Belege für die Existenz matriarchaler Kulturen gibt. Gimbutas‘ wissenschaftliche Forschungsarbeiten liefern den Beweis. Der Beitrag gibt einen Überblick über Leben und Werk der großen Archäologin, die dieses Jahr ihren hundertsten Geburtstag feiert. In ihrer Pionierarbeit verknüpfte sie verschiedene Wissenschaftsdisziplinen und legte die Schicht eines »Alten Europa« frei, das die Göttin und das Leben in all seinen Formen verehrte.
Die litauisch-amerikanische Archäologin Marija Gimbutas wurde 1921 in Vilnius, Litauen, geboren. Dieser Artikel beginnt mit einer Einführung in ihren kulturellen Hintergrund als Litauerin, ihr frühes Leben und ihre Ausbildung in Vilnius und Kaunas sowie ihre Erfahrungen während des Zweiten Weltkriegs. Es folgt ein Überblick über ihr berufliches Leben in den Vereinigten Staaten, in dem eine Auswahl ihrer wichtigsten Veröffentlichungen und die fortschreitende Entwicklung ihrer Vorstellungen vom Alten Europa als der ursprünglichen Grundlage der europäischen Zivilisation erörtert werden. In diesem Jahr, dem Jahr des hundertjährigen Jubiläums von Marija Gimbutas, wird sie von der UNESCO als eine der herausragenden Persönlichkeiten geehrt, die »dabei halfen, die Zivilisation, deren Teil wir sind, zu gestalten, indem sie dazu beitrugen, dass sich Kulturen gegenseitig bereichern, um zu universellem Verständnis und Frieden zu gelangen«.
Von frühester Kindheit an war Marija von den litauischen Überlieferungen verzaubert. Sie liebte es, zum Krankenhaus ihrer Eltern zu laufen, um im Keller mit den alten Frauen zu sitzen, die Kartoffeln schälten, und stundenlang ihren traditionellen Liedern und Geschichten zu lauschen, und sie erwartete von den Dorfmädchen, die sich zu Hause um sie kümmerten, dass sie dasselbe taten. Sie lernte, dass Schlangen als heilig verehrt wurden und es absolut verboten war, ihnen in irgendeiner Weise zu schaden; dass es Laima ist, die das Schicksal der Menschen in die Muster des Reifs schreibt, und dass es Saulė, die große Sonnengöttin, ist, die ihren glühenden Wagen über den Himmel fährt. Die Dorfbewohner beteten zu Saulė jeden Tag bei Sonnenaufgang und Sonnenuntergang, denn die gesamte Feldarbeit hing von der Gnade der Sonne ab.
Die Erde wurde als Žemyna, die Große Mutter, verehrt, die seit alteuropäischen Zeiten verehrt wurde; man brachte der Erde aus Dankbarkeit für das Leben Opfer dar.
Jahrzehnte später erinnerte sie sich: »Die alten Frauen benutzten Sicheln und sangen, während sie arbeiteten. Die Lieder waren sehr authentisch, sehr alt. In diesem Moment verliebte ich mich in das, was uralt ist, weil es eine tiefe Kommunikation und Einheit mit der Erde in sich hat. Ich war völlig gefesselt. Dies war der Beginn meines Interesses an der Folklore.«
Im Sommer 1940 unternahm Marija mit ihrem Verlobten Jurgis Gimbutas eine ethnografische Reise in die Gegend von Dzukija im Südosten Litauens, wo sie die Texte der Dainos niederschrieb. Dies waren traditionelle Lieder, die von einer alten Frau gesungen wurden, deren Repertoire mehr als 300 Lieder umfasste. Zu dieser Zeit gab es nur noch einige wenige Frauen, die Marija später als »die letzten Barden Litauens, die wichtigsten Überlieferer des litauischen Erbes aus vergangenen Zeiten bis ins 20. Jahrhundert« bezeichnete. Sie verspürte das Bedürfnis, sie zu treffen und dieses Erbe festzuhalten, denn diese »großen Sängerinnen« waren am Verschwinden.
Lesen Sie im vollständigen Artikel, wie die Forschungsergebnisse der Archäologin Marija Gimbutas die Sicht auf das »Alte Europa« völlig veränderten.
Die Vorgeschichte Osteuropas (1956)
Marija Gimbutas‘ Monografie »The Prehistory of Eastern Europe« (Die Vorgeschichte Osteuropas) wurde 1956 von der American School of Prehistoric Research, Peabody-Museum, veröffentlicht. Um diesen Text zu verfassen, studierte sie alle Ausgrabungsberichte in ihrer Originalsprache, vom Baltikum bis zum Kaukasus, über mesolithische, neolithische und kupferzeitliche Kulturen, die 100 Jahre Ausgrabungen bis 1955 repräsentieren. In dieser umfassenden Monografie wird die Vorgeschichte Osteuropas dargestellt, die für westliche Wissenschaftler aufgrund sprachlicher und politischer Barrieren bisher unzugänglich war. In diesem Werk führte sie den Begriff »Kurgan-Kultur« ein – ein von ihr geprägter Sammelbegriff für »die mobile, kriegerische, pastorale und patriarchalische Kultur, die die Steppenzone nördlich des Schwarzen Meeres und des Kaukasus bewohnte«.
Antike Symbolik in der litauischen Volkskunst (1958)
Noch während ihres Studiums in Harvard vollendete Marija Gimbutas das ihrer Mutter gewidmete Werk »Ancient Symbolism in Lithuanian Folk Art« (1958). Sie erkannte, dass die litauische Volkssymbolik, die sich auf die Lebensweise der ersten Ackerbauern zurückführen lässt, in der mündlichen Tradition der Dorfbewohner durch Lieder, Geschichten und verbale sowie visuelle Metaphern reichhaltig bewahrt wurde. In dieser Monografie schrieb Gimbutas: »Symbole in der Volkskunst … waren Elemente eines geordneten Systems, keine spontanen, unverbundenen Inspirationen.« Diese Einsicht beeinflusste später ihre Interpretationen der Symbolik der neolithischen Gesellschaften des Alten Europa. Dieses Buch konzentriert sich vor allem auf die wunderschön verzierten Holzpfähle, die überall in der Landschaft aufgestellt wurden und
uralte Symbole enthielten, die den Glauben der Menschen an die Heiligkeit des Lebens zum Ausdruck brachten.
Wie Gimbutas in ihrer Einleitung schreibt, sind diese litauischen Denkmäler »aus der Erde aufgestiegen, so wie das Volkslied aufgestiegen ist und die verschiedenen Bräuche aufgestiegen sind, aus religiösen Überzeugungen, die eine Formgebung durch künstlerische Gestaltung forderten«. Ihrer Ansicht nach gehören diese alten Symbole zu einem einzigen religiösen System, »das den Geist eines Volkes zum Ausdruck bringt, das sein Lebenselixier aus fest in der Erde verankerten Wurzeln schöpfte«.
Die Sprache der Göttin (1989)
1989 veröffentlichte Marija Gimbutas das Buch »The Language of the Goddess« (Die Sprache der Göttin), in dem sie erklärte: »Ich glaube nicht, wie viele Archäologen dieser Generation zu glauben scheinen, dass wir die Bedeutung der prähistorischen Kunst und Religion nie erfahren werden, … [die] sehr reichhaltig dokumentiert ist. Die Materialien, die für das Studium der alteuropäischen Symbole zur Verfügung stehen, sind so umfangreich wie die Vernachlässigung, die diesem Studium zuteilwurde.« Sie verstand, dass die tief verwurzelten Überzeugungen der Menschen – ihre heiligen Konzepte über das zusammenhängende Netz des Lebens und ihren Platz darin – die Quelle dieser uralten Symbolik darstellten, die über Tausende von Jahren als »ein zusammenhängendes und beständiges ideologisches System« fungierte. Sie erklärte die Notwendigkeit, die Grenzen der archäologischen Interpretation zu erweitern und interdisziplinäre Forschung einzubeziehen. Daher prägte sie die Archäomythologie, die sich auf vergleichende Mythologie, frühgeschichtliche Quellen, Linguistik, Volkskunde, historische Ethnografie und andere Disziplinen stützt. Durch die Anwendung der Archäomythologie begann Gimbutas, die Hauptthemen der alteuropäischen Ideologie »durch die Analyse der Symbole und Bilder und die Entdeckung ihrer inneren Ordnung« zu erkennen.
Marija Gimbutas beschrieb die Feier des Lebens als das Leitmotiv der alteuropäischen Ideologie und Kunst, in der es keinen Stillstand gibt.
Bilder, die von Lebensenergie durchdrungen sind, bewegen sich in Spiralen und Schlangenformen auf der reichhaltigen Keramik, wobei sich die Symbole von einer Erscheinungsform in eine andere verwandeln, vom Menschen zum Tier, von der Schlange zum Baum, von der Gebärmutter zum Fisch, vom Bukranium zum Schmetterling, in der ständigen Regeneration des Lebens. In »The Language of the Goddess« (Die Sprache der Göttin) schreibt sie: »Symbole sind selten in einem echten Sinne abstrakt; ihre Verbindungen zur Natur bleiben bestehen und müssen durch das Studium von Kontext und Assoziationen entdeckt werden. Auf diese Weise können wir hoffen, den mythischen Gedanken zu entschlüsseln, der die Daseinsberechtigung dieser Kunst und die Grundlage ihrer Form ist.«
Ihre Verwendung des Begriffs »Göttin« ist oft missverstanden worden, doch sie definierte ihn als die fruchtbare, kosmogonische Quelle der Zyklen von Leben, Tod und Erneuerung. Mehr noch, »die Göttin in all ihren Erscheinungsformen war ein Symbol für die Einheit des gesamten Lebens in der Natur.
Ihre Macht war im Wasser und im Stein, im Grab und in der Höhle, in Tieren und Vögeln, Schlangen und Fischen, Hügeln, Bäumen und Blumen.
Daher die ganzheitliche und mythopoetische Wahrnehmung der Heiligkeit und des Mysteriums von allem, was es auf der Erde gibt.«
Inwiefern prägte die Verehrung der Göttin und des Lebens an sich die neolithischen Gesellschaften des Alten Europas? Lesen Sie dies und vieles mehr im vollständigen Artikel. Unten können Sie das Pdf bestellen.
Obwohl Marija Gimbutas die jüngsten Entwicklungen in der Genforschung nicht mehr miterlebt hat, kann man sich leicht vorstellen, dass es sie gefreut hätte, zu erfahren, dass alte DNA-Daten ihre Kurgan-Theorie über das Eindringen proto-indoeuropäischer Steppenstämme in das Alte Europa bestätigt haben. Die genetische Hybridisierung zwischen den Neuankömmlingen aus der Steppe und den alteuropäischen Völkern ist durch DNA-Analysen anschaulich dokumentiert. Jahrzehnte bevor diese bemerkenswerte Technologie für archäologische Analysen zur Verfügung stand, schrieb Gimbutas über den Zusammenprall der Kulturen, den sie anhand von sichtbaren Veränderungen in den Bestattungsmustern, Beweisen für die Auferlegung einer männlichen Elitedominanz über die zuvor friedliche, matristische, egalitäre Bevölkerung, die Einführung von Kriegswaffen und die Störung der gewachsenen alteuropäischen Lebensweisen beschrieb. Soziale, kulturelle, ökologische, ökonomische und unzählige andere Veränderungen wurden von Gimbutas in ihrer Langzeitanalyse der komplexen Prozesse, die zum Ende des Alten Europa und zur Indoeuropäisierung des Kontinents führten, erörtert. Marija Gimbutas war sich bewusst, dass das Wissenspotenzial riesig ist und das, was ein Einzelner in einem Leben erfassen und beitragen kann, begrenzt ist. Sie besaß eine »Bescheidenheit angesichts der Beweise«, die sie dazu veranlasste, ihre eigenen Schlussfolgerungen auf Grundlage der aktuellsten Daten ständig zu revidieren. Sie betrachtete ihre Arbeit als einen Anfang, nicht als ein Ende, und wusste, dass viele jüngere WissenschaftlerInnen auf ihren Schultern stehen würden. Gimbutas‘ ehemalige Doktorandin und Kollegin, Ernestine Elster, schreibt: »Marija Gimbutas war eine Innovatorin und Wegbereiterin; die Anzahl der wichtigen Ideen, die sie vorbrachte, schuf den Impuls und die Agenda für eine intensive Erforschung dieser Ideen und die Veröffentlichung großer Bände.«
Sie lässt uns mit dieser Ermahnung aus »The Civilization of the Goddess« zurück: Wir müssen unser kollektives Gedächtnis neu ausrichten. Dies war noch nie so notwendig wie heute, da wir feststellen, dass der Weg des »Fortschritts« die Lebensbedingungen auf der Erde auslöscht.
Dies sind Ausschnitte aus dem Artikel.
Erfahren Sie mehr über das Alte Europa und seine matristischen Gesellschaften.
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Joan Marler
Das Leben der Göttin im Alten EuropaGedenken an Marija Gimbutas zu ihrem hundertjährigen Jubiläum 2021
Viele Menschen fragen sich, ob es Belege für die Existenz matriarchaler Kulturen gibt. Gimbutas‘ wissenschaftliche Forschungsarbeiten liefern den Beweis. Der Beitrag gibt einen Überblick über Leben und Werk der großen Archäologin, die dieses Jahr ihren hundertsten Geburtstag feiert. In ihrer Pionierarbeit verknüpfte sie verschiedene Wissenschaftsdisziplinen und legte die Schicht eines »Alten Europa« frei, das die Göttin und das Leben in all seinen Formen verehrte.
Über die Autorin
Joan Marler ist Direktorin des Instituts für Archäomythologie, Herausgeberin von The Civilization of the Goddess von Marija Gimbutas (1991), From the Realm of the Ancestors: An Anthology in Honor of Marija Gimbutas (1997), Journal of Archaeomythology und anderen Veröffentlichungen.
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